Der Forschungsüberblick gilt vor allem in Qualifikationsschriften oft als lästige Pflicht, die man – gern auch in Form von Fußnotenexzessen – schnell hinter sich bringen möchte. Systematisch eingeführt hat ihn vor mehr als 2400 Jahren Aristoteles. Warum eigentlich?

Rollenverteilung bei Platon

Dass die Verhandlung unterschiedlicher Positionen systematisch als fruchtbarer Teil der Wissensvermittlung eingesetzt werden kann, konnte Aristoteles bei seinem Lehrer Platon lernen. Dieser wählte den Dialog, um seiner Philosophie schriftlich Ausdruck zu verleihen. Ein Vorteil dieses Formats liegt darin, dass verschiedene Denkansätze von verschiedenen Gesprächspartnern entwickelt, vorgestellt und erprobt werden können. Damit gelingt es Platon in der Nachahmung eines lebendigen Austauschs, die Voraussetzungen und Konsequenzen von unterschiedlichen Annahmen schrittweise einer Prüfung zu unterziehen sowie deren Schwachstellen und Widersprüche offenzulegen.

Widersprüche zwischen bisherigen Annahmen laden zu neuen Lösungen ein

Indem weitere Figuren in das Gespräch eintreten oder der Gesprächsführer – oft, aber nicht immer, ist es Sokrates – neue Lösungsvorschläge zur Prüfung vorlegt, können mehrere Denkansätze zu einem Thema diskutiert werden. So kann Platon beinahe unauffällig und nebenbei Überblicke über womöglich vertretene Positionen und zeitgenössisch diskutierte Ansätze  liefern. Dies erfolgt jedoch selten in Form historischer Zuordnung. Eine Vielheit an Grundannahmen ergibt sich in den Texten eher daraus, dass Aporien, also theoretische Probleme oder Widersprüche, auftauchen und dadurch gedankliche Neuansätze nötig sind. Zwar lässt Platon in seinen Dialogen auch historisch verbürgte Intellektuelle auftreten und Thesen vorbringen, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Doch der in der folgenden Auseinandersetzung gelieferte Überblick von alternativen Ansätzen erfolgt dann oft ohne namentliche Zuordnung von Urheber oder Vertreter. Die einzelnen Standpunkte werden demnach nicht historisch zueinander oder zu den neuen Ansätzen ins Verhältnis gesetzt. Doch es gibt Ausnahmen. 

Mit Naturphilosophen segeln oder rudern mit Sokrates

So lässt Platon im Dialog Phaidros (266–269) seinen Sokrates einen Aufriss über die Rhetoriklehren seiner Zeit geben oder im Dialog Phaidon (95–99) die Beiträge der „Naturphilosophen“ zur Erforschung der Ursache des Entstehens und Vergehens zusammenfassen. In beiden Fällen dienen die Überblicke dazu, die fundamentalen Probleme der bisherigen Ansätze aufzuzeigen, um im Anschluss daran den Neuansatz des Sokrates vorstellen zu können. Im Phaidros liefert die Zusammenfassung der Rhetoriklehren und der Nachweis ihrer Mängel die Vorlage für die Frage an Sokrates, wie man denn dann „die Kunst des wahren und überzeugenden Redners lernen könne“ (269c–d). Und im Phaidon führt der Durchgang durch die Ansätze der Naturphilosophen zu der ernüchternden Einsicht des jungen Sokrates, bei der Suche nach Lösungen nun ganz auf sich selbst gestellt zu sein.

Ohne Rückenwind – die zweitbeste Fahrt

Er spricht von einer „zweitbesten Fahrt“, die er nun antreten müsse, d. h. von einer Fahrt, die nicht auf Rückenwind – nämlich den der Vorgänger – setzen kann, sondern bei der der Reisende die Ruder selbst in die Hände nehmen, also selbst denken muss. Das heißt natürlich keineswegs, dass Platon nicht selbst stets an vorangegangene Philosophien und Diskursen anknüpft. Das Gegenteil ist der Fall, vgl. hierzu z. B. kompakt Thomas Alexander Szlezák, Platon, München 2021, S. 250–263. Aber wo Platon einen historischen Überblick über die ihm bekannten Lehrmeinungen in seine Dialoge integriert, dienen diese nicht der Ehrerbietung gegenüber Riesen, deren Schultern dem Zwerg Sokrates einen weiten Blick ermöglichen, sondern als Aufweis der bisherigen Sackgassen des Denkens, die eine völlig neue Herangehensweise nicht nur legitimieren, sondern auch fordern.

Forschungsüberblicke als Instrument der Wissensvermittlung

In den uns überlieferten philosophischen Lehrschriften des Aristoteles, den sogenannten Pragmatien, finden sich solche kompakten Überblicke über historisch vertretene Lehrmeinungen nicht mehr nur vereinzelt. Sie werden vielmehr systematisch zur Wissensvermittlung eingesetzt, Zum Status dieser Schriften als sorgfältig komponierte Texte vgl. Ralf Lengen, Form und Funktion der aristotelischen Pragmatie, Stuttgart 2002 sowie Eckart Schütrumpf, „Form und Stil aristotelischer Pragmatien,“ in: Philologus 133 (1989), S. 177–191. beispielsweise in seiner Politik, seiner Physik, seiner Metaphysik oder in seinen Schriften Über den Himmel und Über die Seele. Wenn wir uns anschauen, wie Aristoteles den jeweiligen Einsatz begründet, wird deutlich, dass er drei Aspekte im Blick hat, die für ihn den Forschungsüberblick zu einem Instrument, ja zu einem beschleunigenden Motor der Wissensvermittlung machen: einer dieser Aspekte zielt auf die Rezeptionshaltung der Adressaten, zwei auf die Gewinnung des zu vermittelnden Wissens. 

Vertrauen gewinnen

Die Rezeptionshaltung hat Aristoteles im Blick, wenn er beispielsweise in der Politik seine Auseinandersetzung mit Verfassungen und Verfassungsentwürfen damit begründet, dass ja „nicht der Schein entstehe, als würden wir nach anderen Lösungen suchen, um uns geistreich zeigen zu wollen (σοφίζεσθαι / sophizesthai). Vielmehr soll sich zeigen, dass die Mangelhaftigkeit dessen, was uns vorliegt, uns zu dieser Untersuchung treibt.“ (1260b33–37)

„Wer zutreffend über die Wahrheit urteilen will, darf kein Prozessgegner sein“

Oder wenn er in seiner Schrift Über den Himmel den Stand der Lehrmeinungen zu der Frage, ob der Himmel entstanden sei oder nicht, mit der Bemerkung einleitet, dass das, „was später noch gesagt wird, überzeugender sein wird, wenn man zuvor die widerstreitenden Positionen angehört hat. Dadurch vermeiden wir den Eindruck, jemanden in Abwesenheit zu verurteilen. Denn wer zutreffend über die Wahrheit urteilen will, muss ein Richter und darf kein Prozessgegner sein.“ (279b8–12). Sein Ziel ist es also, durch die Art seiner Auseinandersetzung mit konkurrierenden Forschungspositionen Vertrauen (πιστόν = glaubwürdig, vertrauenswürdig) für seine eigenen Ansätze zu gewinnen.

Selbstcharakterisierung als Strategie der Überzeugung

Über die Kunst, Glaubwürdigkeit zu erzeugen, schreibt Aristoteles in der Rhetorik. Hier erklärt er, dass nicht nur die Qualität der Argumentation (λόγος / logos) und der emotionale Zustand der Zuhörer (πάθος / pathos), sondern auch der Charakter des Redners (ἦθος / ethos) eine entscheidende Rolle dafür spiele, ob eine Rede für glaubwürdig gehalten wird oder nicht. (Vgl. Rhetorik 1356a1–20) Demnach sei es nicht möglich, dass ein Redner sein Publikum von seinen Inhalten überzeugen könne, wenn ihm auch nur eine der drei folgenden Eigenschaften von den Zuhörern nicht zugeschrieben werde (vgl. Rhetorik 1378a6–19): Klugheit (φρόνησις / phronesis), Tugend (ἀρετή / arete) und Wohlwollen (εὔνοια / eunoia). Mit Klugheit ist in diesem Zusammenhang die Fähigkeit gemeint, richtige Urteile fällen zu können, mit Tugend das allgemein wertgeschätzte Vermögen, sich um das Wohl der Mitmenschen verdient zu machen (vgl. Rhetorik 1366a36–b6). Wohlwollen offenbare der Redner dann, wenn er zu erkennen gebe, dass er das Beste für die konkrete Zuhörerschaft im Sinn habe.

„Platon ist mir lieb, noch lieber ist mir aber die Wahrheit!“

Wenn Aristoteles nun seine Forschungsüberblicke damit einleitet, dass durch sie die persönlichen Absichten der eigenen Forschung offengelegt und Vertrauen für die anstehenden Untersuchungen aufgebaut werden soll, macht er deutlich, dass er hiermit auch Hinweise auf Klugheit, Tugend und Wohlwollen, also auf den Charakter desjenigen liefert, der das Wissen vermittelt. Denn er erweckt dadurch erstens den Anschein der Kompetenz, sämtliche relevante Positionen überblicken und bewerten zu können. Er betont zweitens die Absicht, allein im Sinne der Wahrheitsfindung und nicht – wie andere – zum Zweck der Selbstdarstellung oder der Herabwürdigung von Gegnern Argumente zu prüfen und Neues zu formulieren. Und er hinterlässt drittens den Eindruck, durch seine kritische Besprechung gängiger Positionen zum Wohl und Nutzen der konkreten Hörer bzw. Leser Fehlwege vermeiden, Fragestellungen finden und Lösungswege übernehmen zu können. Diesem rhetorischen Zweck einer vertrauensfördernden Selbstcharakterisierung dienen auch Aristoteles’ berüchtigte Worte, mit denen er seine Kritik an die von „Freunden“ eingeführten Ideen einleitete: „Man sollte es aber wohl für richtiger, ja sogar für erforderlich erachten, zur Rettung der Wahrheit auch nahestehende Lehren zu widerlegen, insbesondere wenn man ein Philosoph ist. Denn obwohl uns beide lieb sind, ist es ein heiliges Gebot, die Wahrheit höher zu achten.“ (Nikomachische Ethik 1096a14–17) Später wurde daraus das Sprichwort: Amicus Plato magis amica veritas – Platon ist mir lieb, noch lieber ist mir aber die Wahrheit!

Rezeption beschleunigen

Indem Aristoteles mit der Art, wie er seine Forschungsüberblicke anlegt, Hürden für die Glaubwürdigkeit seiner Untersuchung und damit für den Erfolg seiner Wissensvermittlung aus dem Weg räumt, macht er sie zu einem Instrument der epistemischen Beschleunigung in Bezug auf die Bearbeitung der Rezeptionshaltung des anvisierten Publikums und damit verbundene Erkenntnisprozesse. Denn, so schreibt Aristoteles explizit, „den Anständigen glauben wir eher und schneller (μᾶλλον καὶ θᾶττον)“ (Rhetorik 1356a6–8).

Erst Knoten finden, dann lösen

Doch soll der Forschungsüberblick nicht allein die Rezeption, sondern auch die eigene Forschung begünstigen. Denn die Sammlung und Durchsicht der bekannten Forschungspositionen helfe bei der Setzung des Ziels der eigenen Untersuchungen, indem hierdurch erst die Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die auf eine Lösung warten. Wie in der Politik betont Aristoteles auch in seiner Schrift Über die Seele (403b20–24), dass es bei dem Überblick über die bisherigen Lehrmeinungen auch darum gehe, die mangelhaften Positionen zu identifizieren. Dies tut er nicht nur, um sein eigenes Vorhaben zu rechtfertigen, sondern auch, wie er in Über den Himmel (308a5–8) deutlich macht, um die Probleme zu finden, die in der eigenen Untersuchung angegangen werden müssen. In der Metaphysik verweist Aristoteles auf den Wert von Aporien, da das Verstehen eines Problems Voraussetzung für das Finden von Lösungen ist: „Auflösen kann man nicht, wenn man den Knoten nicht kennt. Und die Ausweglosigkeit (aporia) im Denken zeigt diesen Knoten der Sache an.“ (Metaphysik 995a 29–31) Hinzu komme, dass ein Forscher, der die problematischen Fragen nicht kenne, einem Wanderer gleiche, der nicht wisse, wohin er gehen solle, und der das Ziel nicht einmal erkennen würde, selbst wenn er es schon erreicht hätte. Mit seinen Forschungsüberblicken zielt Aristoteles explizit auf das Ergründen all jener mit dem Thema verbundenen Schwierigkeiten. Sie liefern die zu lösenden Fragen und Probleme und geben der Forschung ihr Ziel.  Damit ersparen sie dem Forscher ein orientierungsloses Umherwandern und beschleunigen den Weg zum Forschungserfolg. 

Richtiges und Nützliches finden

Schließlich, so ein dritter Aspekt, dient der aristotelische Forschungsüberblick dazu, inhaltlich von bereits gefundenen Lösungswegen zu profitieren. Hiermit hebt sich Aristoteles deutlich von den historischen Forschungsüberblicken ab, die wir in den platonischen Dialogen kennengelernt haben. Denn Aristoteles betont, nicht nur durch Abgrenzung und Problemaufweis von den Vorgängern nutznießen, sondern auch in einem positiven Sinn bei ihnen inhaltliche Lösungswege finden zu wollen. In der Politik erklärt er, dass er die besten bestehenden politischen Ordnungen und die angesehensten Verfassungsentwürfe in Betracht ziehen wolle, „damit sich zeige, was an ihnen richtig und nützlich ist.“ (1260b27–33)

„Wer könnte wohl die Tür verfehlen?“

Dem liegt die von ihm u. a. in der Metaphysik geäußerte Annahme zugrunde, dass jeder Überlegende, wenn auch nicht in einem hinreichenden Sinn, doch stets auch richtige Aspekte von der Wahrheit erfasse. „Wer könnte wohl die Tür verfehlen?“ fragt Aristoteles sprichwörtlich und meint damit:  Niemand verfehle die Wahrheit so ganz, so dass man im Einzelfall vielleicht „nichts oder doch nur wenig zu ihr beiträgt. Doch nimmt man alles zusammen, so ergibt sich eine gewisse Größe.“ (Metaphysik 993a30–b2) Und so gelte es, allen dankbar zu sein: denen, deren Ansichten man zustimme, aber auch denen, die eher an der Oberfläche verweilten. „Denn auch sie haben etwas zur Wahrheit beigetragen […] Wir haben nämlich von einigen gewisse Ansichten übernommen, während andere die Ursache dafür waren, dass es diese gab.“ (993b14–19)

Von der Ahnung zum Wissen

Aristoteles bestätigt diese Position auch unter einer anderen Perspektive. „Jeder Mensch,“ heißt es in der Eudemischen Ethik, „trägt etwas in sich, das in Beziehung zur Wahrheit steht.  Das müssen wir als Ausgangspunkt nehmen, um dadurch zunächst ungefähr zu zeigen, wie es sich verhält.“ (1216b26–35) Die zunächst noch ungenauen Ansichten verweisen also bereits auf Wahres, müssen jedoch konkretisiert und differenziert werden, wenn aus einer Ahnung begründetes Wissen werden soll. Solche Ausgangspunkte für die Wissenserzeugung können überlieferte Spruchweisheiten aus der Dichtung sein, aber auch „unfertige“ philosophische Argumentationen. So schreibt Aristoteles, nachdem er in der Physik einen Lösungsvorschlag für ein Problem vorgestellt hat: „Dies haben zwar schon andere berührt, aber eben noch nicht hinreichend erfasst.“ (191b35–36) Damit dient das Sammeln von Ansichten und Überlegungen Aristoteles auch als Möglichkeit der Anknüpfung in zweierlei Hinsicht: er kann seinen Lesern auf Augenhöhe begegnen, sie bei ihren Überzeugungen „abholen“, um von dort ausgehend für sie und mit ihnen weitere Zusammenhänge zu erschließen. Und er kann bei der Problemlösung selbst von bereits unterschiedenen Hinsichten profitieren, um seine Erörterungen von Anfang an mit einer Fülle von Perspektiven zu bereichern und daran anschließend die aus seiner Sicht noch fehlenden Schritte gehen zu können.

Entwurf einer Geschichte

Aristoteles hat während seines langen Aufenthalts an der platonischen Akademie die Erfahrung sammeln können, wie produktiv die Auseinandersetzung mit verschiedenen Forschungspositionen für eigene Erkenntnisfortschritte ist. Wir haben eingangs gesehen, dass auch die platonischen Dialoge solche produktiven Auseinandersetzungen widerspiegeln. Die Offenlegung von Aporien und die nach allen Seiten hin stattfindende Prüfung von Themen sind zentraler Bestandteil dieser Texte. Hierbei fließen natürlich auch Lehren und Positionen der zeitgenössischen Debatten in die Gespräche ein, überwiegend allerdings ohne historische Zuordnung.

Philosophiegeschichte, die mit zunehmender Geschwindigkeit auf ein Ziel zuläuft

Aristoteles hingegen präsentiert mit seinen Forschungsüberblicken seine eigenen Überlegungen ganz explizit als ein an Traditionen anschließendes, von der Philosophiegeschichte profitierendes und aus der Vergangenheit herauswachsendes Denken. In der Art, wie er die Positionen zusammenstellt, auf gemeinsame Grundfragen zurückführt und auseinander erwachsen lässt, entwirft er eine Philosophiegeschichte, die sogar auf ein Ziel, nämlich auf das der durch seine Schule zu erbringenden Vollendung gerichtet zu sein scheint. Vgl. hierzu die Zuspitzung von Olof Gigon, „Die Erneuerung der Philosophie in der Zeit Ciceros.“ Entretiens sur l’antiquité classique, vol. 3, 1957, S. 23–57 sowie Cicero, Gespräche in Tusculum 3, 69. Zugleich beschleunigt er diese Geschichte, indem er auf wenigen Zeilen zeitliche und geographische Räume zusammenrücken lässt Vgl. zu Merkmalen historischer Beschleunigung Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? in: ders., Zeitschichten. Frankfurt/M 2000. und Alexandre Escudier, Das Gefühl der Beschleunigung der modernen Geschichte: Bausteine für eine neue Geschichte.: Die über Jahrhunderte in verschiedenen Gegenden entwickelten Positionen stoßen sich gegenseitig an und laufen mit zunehmender Geschwindigkeit auf die von ihm vorgelegte Lösung zu.

Forschungsüberblick als Strategie epistemischer Beschleunigung

Aristoteles’ Forschungsüberblicke können also als Strategien epistemischer Beschleunigung verstanden werden, da sie die Rezeptions- und Forschungsgeschwindigkeit Zum Trainingseffekt, der sich durch den Vergleich und die Auseinandersetzung mit anderen Positionen und Überzeugungen einstellt, vgl. auch Metaphysik 995b2–3 sowie Topik 101a25–b4. und damit die Geschwindigkeit der Erkenntnisvermittlung erhöhen sollen. Das gilt, obwohl sich durch die zusätzliche Textmenge die Lesegeschwindigkeit deutlich verlangsamt. Denn narratives und epistemisches Tempo sind nicht deckungsgleich. Zugleich stellen die Forschungsüberblicke in ihrer Kompaktheit und ihrer Anlage eine Beschleunigung der so erzählten Wissensgeschichte selbst dar, die derart geordnet wird, dass sie geradewegs und mit jeder neuen Lösung immer schneller auf das Ziel, die Lösung der Probleme zuläuft.

Rudern mit Rückenwind

Am prägnantesten ist das formuliert in der Schrift Magna Moralia, die, wenn vielleicht auch nicht von Aristoteles selbst, so doch wenigstens aus dem Umfeld seiner Schule stammt. Hier heißt es zu Beginn, dass man nicht übersehen dürfe, was auch früher schon über die Tugend gesagt wurde. Demnach war Pythagoras der erste, der über die Tugend sprach, aber er tat es „nicht richtig“ (οὐκ ὀρθῶς). Anschließend sei Sokrates gekommen, der besser und umfassender darüber sprach, „aber auch nicht richtig“. Nach Sokrates habe demnach Platon immerhin den verschiedenen Seelenteilen verschiedene Tugenden zugeordnet, „was richtig war. Bis zu diesem Punkt verfuhr er zutreffend, was aber danach kam, war nicht mehr richtig.“ Und so sei es nun Aufgabe der Schule des Aristoteles zu erklären, wie es sich richtig mit der Tugend verhalte. (Magna Moralia 1182a) Wie schon in der Physik obliegt es dem Autor, die Geschichte zu ihrem Abschluss zu bringen. Wenn wir bei dem eingangs von Platon benutzten Bild der Seefahrt bleiben, so versteht auch Aristoteles sich als jemand, der aus eigner Kraft seinem Ziel entgegenrudert. Anders jedoch als es das Bild aus dem platonischen Phaidon nahelegt, setzt Aristoteles mit seinen Forschungsüberblicken explizit auf den Rückenwind seiner Vorgänger, um seiner Fahrt Orientierung, Schub und Geschwindigkeit zu verleihen – und nicht den ganzen Weg allein rudern zu müssen. 

Christian Vogel ist Gastprofessor am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin.

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Epistemische Beschleunigung.