Ein Logbuch ist ein Schiffstagebuch. Der Begriff leitet sich von einem historischen Messverfahren ab, das die Fahrtgeschwindigkeit eines Schiffes mit Hilfe eines Holzscheits (engl. log) ermittelte. In Logbücher wurden in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus fortlaufend Beobachtungen eingetragen, die alles betreffen konnten, was den Seefahrern auf ihrer Reise übers Meer zustieß oder begegnete. Dazu gehören astronomische Berechnungen, geographische Kartierungen der durchquerten Meere und passierten Küsten ebenso wie Beobachtungen zu klimatischen Verhältnissen, Messungen zu Wind- und Wassergang, Entdeckungen aus anderen Wissensgebieten wie Flora und Fauna, aber auch Bemerkungen zu den politischen, religiösen und wirtschaftlichen Verhältnissen in den jeweils besuchten Regionen. Im Logbuch trafen also sehr unterschiedliche Erfahrungen und Wissensformen aufeinander. Es wurde Wissen be- und verarbeitet und durch ständige Beobachtungen neu verhandelt. Zugleich wurde der eigene Standpunkt – sowohl geographisch als auch das eigene Wissen betreffend – ständig überprüft und gedeutet; und zwar selbst dann, wenn die Eintragenden dies gar nicht beabsichtigten. So stieß vermeintlich bekanntes Wissen auf unbekanntes, wurden Hypothesen überprüft – Gibt es Meerjungfrauen wirklich? Und wenn ja, wo leben sie und wie sehen sie aus? – und wurden Methoden und Theorien auf ihre Geltung und Stichhaltigkeit hin abgeklopft, weiterentwickelt oder auch verworfen. 

Für den Sonderforschungsbereich Episteme in Bewegung, an dessen Arbeit dieser Blog teilhat, dient das nautische Logbuch nun als Modell zur Darstellung von Wissensverhandlungen, in denen die Geltung von Wissen immer neu zur Disposition steht. Das Modell soll uns dabei helfen, zu verstehen, wie Vorstellungen, Konzepte und Begriffe, in denen Wissen manifest wird, immer an soziale, kulturelle und mediale Kontexte geknüpft sind. In diesen Kontexten wird das Wissen geformt, in ihnen kommt es zur Erscheinung und in ihnen wird es allererst hervorgebracht. In unserem digitalen Logbuch zeigen wir mit ganz unterschiedlichen Beitragsformaten und Einträgen – wie unter einem Brennglas –, wie strategische Erwartungen und theoretische Vorannahmen aus unterschiedlichen Traditionen auf neue Erkenntnisse aus empirischer Erfahrung und praktischen Verfahren stoßen und dabei neues Wissen schaffen. Die verschiedenen Aspekte begegnen einander, durchkreuzen sich, konkurrieren miteinander und führen so zu neuem, sich ständig wandelndem Wissen, das immer weiter fortgeschrieben wird und das mit jedem Versuch, es fortzuschreiben, auch schon wieder ein anderes geworden ist. 

Unser Logbuch Wissensgeschichte ist als dialogisches Forum konzipiert, das den unterschiedlichen Anstößen, Strängen und Überschneidungen von vormodernen Wissensbewegungen sowie ihrer kontextspezifischen Anreicherung in Wissensoikonomien – sprich: in komplexen Verflechtungen und Beziehungsnetzen – nachgeht. Mit dem Logbuch als Modell werden hier im Blog Transfer-Bewegungen dokumentiert: die Veränderung von Wissen in neuen Kontexten. Es wird analytisch nachgezeichnet, wie sich zentrale Begriffe, Wissenskontexte bzw. -szenarien verschieben oder gar ablösen. Wie in einem nautischen Logbuch entsteht so im digitalen Raum eine mehrdimensionale Kartographie jeweils spezifischer Routen, Knoten- oder Wendepunkte, auf und in denen sich Wissen neu konfiguriert. Im Sonderforschungsbereich Episteme in Bewegung nennen wir diese Knoten- und Wendepunkte von Wissensaushandlungen „Momenta“. Das Logbuch zeichnet sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht nach, wie Wissen in Bewegung gerät, und zwar immer in seinen je besonderen historischen Verhandlungsweisen und Verflechtungen. Wichtig sind dabei gerade die wissenspraktischen, an den jeweiligen Gegenstand geknüpften Verfahren wie auch Bewegungen, in denen sich das Wissen verändert und kulturelle Grenzen überschreitet. 

Generell untersucht unser von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderter Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“ Wissenswandel in Kulturen der Vormoderne innerhalb und außerhalb Europas. Die dort versammelten Forscher:innen fragen nach langfristigen Wissensbewegungen unter deren je besonderen geschichtlichen Bedingungen und entwickeln gemeinsam ein Instrumentarium für deren Beschreibung. Die leitende Hypothese lautet, dass in Kulturen vor 1750 zwar die Tendenz bestand, Wissen als unwandelbar stabil aufzufassen, dass sich das Wissen der betreffenden Kulturen aber entgegen dieser Zuschreibungen in ständigem Wandel befand, und zwar vor allem dort, wo die besondere Stabilität des Wissens behauptet wurde. Um die spezifischen Dynamiken vormodernen Wissenswandels herauszuarbeiten, hat der SFB das zentrale Begriffspaar Episteme und Transfer als miteinander eng zusammenhängende Beschreibungskategorien entwickelt. Danach bestimmt Episteme Wissen als etwas, das immer mit Geltungsansprüchen versehen ist, soll heißen: Wir betrachten Wissen, das zu einer bestimmten Zeit als gültig anerkannt wird. Diese Geltungsbehauptung wird in der Art und Weise seiner Vermittlung erkennbar: wie es theoretisch beschrieben und reflektiert wird oder wie praktisch mit ihm umgegangen wird; wie Wissen veranschaulicht wird, es sich in Texten, Bildern oder anderen Medien zeigt und vermittelt. Die Geltungsansprüche des Wissens kommen dabei in materialen und medialen Formen zum Ausdruck und werden von diesen gestaltet. Unter Transfer versteht der Sonderforschungsbereich Wissenswandel im Sinne einer Neukontextualisierung von Wissen, durch die es neue Bezüge entwickelt und in neue Wechselwirkungen eintritt. Gerade diese sich ständig verändernden und in Wechselbeziehungen stehenden Bezugnahmen erfordern es, den Wandel vormodernen Wissens jenseits traditioneller historischer Kategorien wie Kulturraum oder Epoche zu begreifen.

Mit unserem digitalen Reisebuch und seinen Einträgen unterschiedlicher Formate und Rubriken erkunden wir stets ausgehend von konkreten Fallstudien und in der Vernetzung zahlreicher Fachrichtungen Wissensgeschichte, erörtern begriffliche Systematisierungen sowie strukturelle Vernetzungen und dokumentieren unsere Forschungsarbeit. Wir laden Besucherinnen und Besucher dazu ein, an Bord zu kommen, um spannende WissensGeschichten zu lesen, zu hören und zu betrachten, um anregenden WissensFragen nachzugehen, um den jeweiligen Fund des Monats zu bestaunen und um Kontroversen zu verfolgen sowie Aktuelles zu besprechen.

Die Konzeption des Logbuchs folgt einer Idee von Anne Eusterschulte.

Mitglieder des Redaktionsteams:
Mira Becker-Sawatzky, Şirin Dadaş, Anne Eusterschulte, Kristiane Hasselmann, Andrew James Johnston, Nikolas Pissis, Falk Quenstedt, Claudia Reufer, Hanna Zoe Trauer, Christian Vogel und Helge Wendt