Dass sich Wissen rasant verändert, ist eine typische Erfahrung der Moderne. Aber geht es dabei um Wissensbeschleunigung oder eher um soziale Veränderungen? Der Beitrag stellt diese Fragen mit und für die Platonischen Dialoge und findet in der Figur des Sokrates des 5. und 4. Jh.s v. Chr. einen Wissensbooster.

Man stelle sich vor: Es ist die Nacht der Oskarverleihungen. Ein Hollywoodstar, dessen Film 10 der berühmten Trophäen abgeräumt hat, lädt zur großen Party. Alles, was Rang und Namen hat, ist eingeladen, angekündigt sind Überraschungsperformances des Gastgebers, die VIP-Gäste beeilen sich, nichts zu verpassen.  Alles ist in Bewegung und voller gespannter Unruhe. Doch einer der Eingeladenen bleibt vor dem Eingang des angesagtesten Clubs, in dem die Party stattfindet, stehen und schickt seinen Begleiter schon einmal voraus. Die Zeit vergeht, der lange erwartete Gast ist drinnen immer noch nicht angekommen, wartet nun etwas abseits vom Geschehen weiterhin draußen. – Es erscheint kaum vorstellbar, dass sich in einem solchen Szenario jemand dieser Dynamik entziehen könnte oder wollte. – Die Szene spielt auch nicht heute, sondern Platon erzählt sie in seinem Dialog Symposion, der eingeladene Gast ist Sokrates. Der Gastgeber, der Tragödiendichter Agathon, der eben einen Sieg bei den großen Festspielen errungen hat, wird unruhig, fragt nach und erfährt von der Geschichte. Sokrates sei in Gedanken versunken und nicht ansprechbar gewesen. „Verrückt“ ist Agathons erste Reaktion. Sokrates solle schnell hergeholt werden, ein Nein wolle er, Agathon, nicht akzeptieren. Aristodemos, der Begleiter des Sokrates, aber beschwichtigt. Das sei bei Sokrates gar nichts Ungewöhnliches. Er entziehe sich immer wieder den Anforderungen, die an ihn herangetragen werden, wenn er nachdenke. Das Streben nach Erkenntnis und der Erwerb von Wissen scheinen ihn ganz zu erfüllen und in der reinen Gegenwart festzuhalten. Von Beschleunigung also keine Spur.

Ist Sokrates also ein Aussteiger wie der Kyniker Diogenes von Siope, der es vorzog in einer Tonne zu leben, statt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen? Oder ist die Szene Sinnbild für das antike Lebensgefühl überhaupt, in der die Zeit stillzustehen schien und sich Wissen und Gesellschaft wenn überhaupt, dann nur sehr langsam bewegten?

In jedem Fall steht die Szene im krassen Gegensatz zu unserem heute dominierenden Zeitgefühl. Heute scheint sich das Entstehen, die Verbreitung oder der Transfer von (neuem) Wissen schneller als früher, ja schneller als noch vor sehr kurzer Zeit zu vollziehen: in der Krebsforschung, in der Entwicklung neuerer und besserer Computer, bei den beeindruckenden Leistungen von Raumfahrtingenieuren, aber auch im Kleinen bei der Entwicklung neuer Staubsaugerroboter oder von Benutzeroberflächen für die Bedienung der neuesten Fitness App; auch scheinen sich Nachrichten z. B. über Fauxpas bei Wahlkampfauftritten von Politikern schneller zu verbreiten oder Wissen aus einer Wissenschaft oder wissenschaftlichen Institution schneller in Unternehmen oder bei der Umsetzung von technischen Verfahren anzukommen als früher. Auch der Einzelne scheint bestimmt zu sein von dem Gefühl, dass sich Wissen und Technologie immer schneller veränderten, dass es kaum möglich sei, damit Schritt zu halten und sich richtig zu orientieren. Wird der Einzelne also von dem beschleunigten Wissen und dem dynamischen technologischen Fortschritt abgehängt?

Aber stimmt der Eindruck? Haben wir es hier überhaupt mit einer Wissensbeschleunigung zu tun oder nicht doch eher mit einer sozialen Beschleunigung, die – getrieben von technischen Neuerungen und Errungenschaften im Bereich der Wissenschaften – den Akteuren den Eindruck vermittelt, dass die von verschiedenen Institutionen und Akteuren an sie gerichteten Erwartungen immer mehr Druck auf den Einzelnen entwickelten? Hartmut Rosa, vor kurzem Gast im SFB „Episteme in Bewegung“, ist in seinen Analysen zur Gegenwart diesen Phänomenen der sozialen Beschleunigung nachgegangen und hat auf das Problem hingewiesen, dass der Einzelne die Chance auf das Erleben von Gegenwart verliere, weil er durch die Zeitersparnis z.B. durch die Ersetzung von aufwendiger Papierbriefpost durch einfach verfügbare E-Mail-Kommunikation einem hohen sozialen Druck ausgesetzt sei, diese gewonnene Zeit für noch mehr E-Mails oder Networking in den sozialen Medien zu nutzen. Schließlich drohe er sich selbst in den Erwartungen der beschleunigten Erfüllung seiner Funktionen zu verlieren.

Der SFB 980 untersucht seit 2012 Wissensdynamiken in antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturen und hat ein breites Spektrum an Formen des Wissenswandels erforscht und vielfach da Beschleunigung in Wissen und Technik festgestellt, wo man früher Stillstand und die Abwehr von Wandel und Veränderung vermutete. Waren das denn also wirkliche Dynamiken von Wissen oder spielten hier eher soziale Beschleunigungen hinein? Die Frage ist wichtig und ruft nach einer grundsätzlichen Antwort. Das Problem muss man aber am Einzelfall betrachten. Denn so verschieden die Formen der Wissensveränderung sind, so verschieden müssen auch die Aussagen zu sozialer und epistemischer Beschleunigung sein. Sokrates ist ein guter Anfangsgegenstand, um das zu untersuchen. Schließlich scheint er mit seiner Gewohnheit, beim Denken ganz die Zeit und seine Umwelt zu vergessen, eher für eine Antike ohne Beschleunigung zu stehen. Andererseits hat es doch den Anschein, dass er mit seinen Fragen die Athener so in Aufruhr und Bewegung versetzt hat, dass bis heute nicht wenige meinten, er habe ein neues Zeitalter von Wissen und Aufklärung eingeläutet. Lässt sich dieser scheinbare Widerspruch auflösen?

Solche sozialen Beschleunigungen, wie Hartmut Rosa sie beschreibt, kann man auch in den Platonischen Dialogen nachzeichnen: Fragt man nach den Beschleunigungs- und rasanten Veränderungserfahrungen, die der Einzelne macht, dann wird man in diesem Corpus rasch fündig: Der Sophist Gorgias zum Beispiel ermüdet im Gespräch mit Sokrates im gleichnamigen Dialog und muss sich von seinem Schüler Polos ablösen lassen, weil Sokrates ihn ständig mit für ihn neuen Konzepten und Ideen konfrontiert, durch die er mit dem, was er als seine Expertise, d. h. sein Wissen als Rhetoriklehrer, für sich in Anspruch nimmt, zunehmend in Widersprüche und Aporien gerät. Der Druck durch die Erhöhung der Geschwindigkeit durch Sokrates‘ Nachfragen, durch die die Meinungen des Gorgias in Frage gestellt werden, führt schließlich dazu, dass Gorgias darauf verzichtet, weiter aktiv an dem Gespräch teilzunehmen und den Staffelstab stattdessen seinem Schüler Polos übergibt. Andere Sophisten wie Menon im nach ihm benannten Dialog oder Kritias im Charmides reagieren ungehalten, weil Sokrates keine einfache Meinung, keinen vermeintlich gesunden Menschenverstand zulässt, sondern alles in Frage stellt und auch grundlegende ethische Normen und Werte außer Kraft zu setzen scheint. Historisch hat dieser von Platon und weiteren Autoren beschriebene Eindruck zu dem Prozess gegen Sokrates geführt: Sokrates verderbe die Jugend, wiegele gegen die althergebrachten Werte und den traditionellen Götterglauben auf.

Ist Sokrates also ein Beschleuniger? Und wenn ja, was für eine Beschleunigung hat er bewirkt?

Im Gespräch mit Gorgias oder mit Menon ist es – so könnte man sagen – die Anzahl an allgemein verbreiteten Meinungen, von denen Sokrates in kurzer Zeit im Laufe eines Gesprächs zeigt, dass und wieso sie in Widersprüche führen. Hier wird jedoch nicht Wissen beschleunigt oder Beschleunigung von Wissen aufgezeigt, sondern möglicherweise die Veränderung gesellschaftlich relevanter Überzeugungen.

In einem anderen Text, dem Protagoras, erkennt man noch einen weiteren Aspekt, wie sich Beschleunigung in einem Platonischen Dialog als subjektives Erleben der Gesprächspartner des Sokrates beschreiben und beziffern lässt. Hier wird ein scheinbar gesprächstaktischer oder formaler Aspekt zum Streitthema zwischen den beiden Protagonisten. Protagoras möchte die Fragen des Sokrates in langen Reden beantworten, in denen er mit seiner Kunst der Komposition und sprachlichen Gestaltung glänzen und seine Zuhörer überzeugen kann. Sokrates hingegen besteht auf einem direkten Gespräch, in dem die kurze Antwort direkt auf eine Frage folgt und zur nächsten Frage führt. Da gibt es kein Ausweichen, kein Aufschieben des eigentlichen Problems, keine Verrätselung des zu behandelnden Sachverhalts, keine Verlangsamung des Arguments und auch keine Unterbrechung durch Exkurse, die die (von Protagoras zum Kauf angebotene) Bildung zelebrieren, oder glanzvolle, von der Sachdiskussion aber abführende Metaphern. Stattdessen werden die Redebeiträge beider Partner eng getaktet. So kann man die Beschleunigung des Gesprächs hier messen, wenn man die Länge der Redebeiträge, die Anzahl an Worten oder Sätzen und die Anzahl der Beiträge, die innerhalb einer bestimmten (Lektüre)Zeit oder auf einer bestimmten Anzahl von Seiten vorgetragen werden, bestimmt und zu der Länge der kunstvollen Reden des Protagoras in Beziehung setzt. Beschleunigung heißt hier also: eine von Sokrates angestrebte (und von Protagoras immer wieder torpedierte) Reduktion auf das eigentliche Sachargument und die Konzentration auf die dabei gemeinsam erworbenen (Teil)Erkenntnisse mit dem Begleiteffekt, dass Umwege und Ablenkungen vermieden werden. Das Gegenteil dessen ist das weitschweifige und Pauschalisierungen verschleiernde Reden, bei dem in einer bestimmten Zeit nur wenig wirkliche Einsicht vermittelt wird.

Die Praxis, die diesen Eindruck von Beschleunigung hervorruft, tut in Wirklichkeit aber noch mehr, als zähe Wettkampfsituationen und andere Um- oder Abwege zu umschiffen: Sokrates weiß, dass Protagoras die argumentative Zuspitzung fürchtet und meiden will. Er nutzt die Aussprache über diesen formalen Konflikt, um das Gespräch auf die für ihn entscheidende Frage zu lenken: Wie hältst Du es mit der Bildung? Sokrates befragt das Erziehungskonzept des berühmten Sophisten darauf, ob es denn hält, was es den begeisterten Schülern verspricht: wirkliche Kommunikations-Skills und Erfolg in politischen Angelegenheiten. Wenn Sokrates nicht locker lässt mit seiner Forderung nach einem wirklichen Sachgespräch, dann auch deswegen, weil damit klar wird, was für ihn Bildung bedeutet: nämlich das Vermitteln der Befähigung dazu, die eigenen Meinungen zu prüfen und nach einer hinreichenden, rational begrifflichen Begründung des eigenen Erkennens zu streben

Die Fragetechnik, die Meinungen prüft und auf mögliche Widersprüche mit anderen Meinungen und Erkenntnissen hinweist, ist der Elenchos (griech. Prüfung). Der Elenchos hat also als Gegenmodell zur langen zusammenhängenden Rede oder einem Redepaar aus zwei Reden eine gesprächspraktische Beschleunigung zur Folge, die für Protagoras und sein Ziel der Wahrung und Steigerung von Reputation und Gefolgschaften auf jeden Fall in die völlig falsche Richtung zieht. Zugleich damit kann man auch von einer sozialen Beschleunigung sprechen, weil sich die Taktung der Begründungs- und Rechtfertigungsansprüche der eigenen Meinungen und Auffassungen an die Akteure verdichtet.

Aber ist das nun eine epistemische Beschleunigung, eine Beschleunigung von Wissen? Und wenn ja, inwiefern? Die elenktischen Gespräche, wie Platon sie darstellt, führen – so sagt es Platons Sokrates selbst – auf jeden Fall zu einer qualitativen Veränderung. Die Gesprächspartner werden von ihrem doppelten Unwissen, also dem Fehlglauben, etwas zu wissen, was sie tatsächlich gar nicht wissen, befreit. Sie wissen jetzt nicht, was eine bestimmte Sache eigentlich ist und wie man sie bestimmt, aber sie wissen, dass sie sich um dieses Wissen noch bemühen, es noch erwerben müssen. Im Dialog Symposion wird gezeigt, dass dies der eigentlich philosophische Eros, das Verlangen nach Wissen ist, das sie nun antreibt oder jedenfalls antreiben sollte. Dieser philosophische Weg spielt auch für die sog. aporetischen Dialoge eine wichtige Rolle. Aporetische Dialoge sind Dialoge, die nicht mit einer expliziten Antwort auf die zentrale Frage des Dialogs enden, sondern mit der Aussage, dass die Lösung noch nicht gefunden wurde und dass die Erkenntnisbewegung weitergehen müsse.

Das Denken und das Streben nach Wissen kommen also in Bewegung; sie werden aus der selbstzufriedenen Untätigkeit zur Aktivität angeregt.

Das könnte man eine philosophische Beschleunigung nennen. Der Philosoph hat, so beschreibt es Platon im Dialog Symposion, ein Verlangen nach Wissen, das ihn in Bewegung setzt. Aber ist diese Beschleunigung, etwas ganz dringend wissen und hinreichend begründen zu wollen, auch epistemisch? Wird hier im Sinne Platons Wissen in Bewegung gesetzt? Um das zu klären, müssen wir noch einmal zum Anfang zurückkehren und uns einer anderen typisch sokratischen Bewegung zuwenden: nämlich dem Innehalten, dem Verharren im Nachdenken über eine Sachfrage, und dem ausdauernden Suchen nach Begründungen.

Davon wie Aristodemos schon einmal allein zum Fest des Stardichters Agathon vorausgehen musste, weil Sokrates noch alleine über eine Sache nachdenken und darüber Klarheit gewinnen wollte, hatten wir schon gehört. Aristodemos sagt offen, dass dieses Verharren Sokrates‘ übliche Art ist, etwas zu durchdenken und Wissen zu erwerben.

Im Protagoras geht Sokrates auf Bitten des jungen Hippokrates, der furchtbar aufgeregt ist, weil der Popstar unter den Rednern und Lehrern in Athen ist, und unter dem Eindruck dieser Begeisterung zu Sokrates geeilt war, zum Treffpunkt der Sophisten, dem Haus des Gastgebers Kallias. Er betritt das Haus aber nicht direkt nach seiner Ankunft, sondern bleibt mit Hippokrates einfach stehen, um noch ein Thema zu Ende zu besprechen, bis sie zu einer ‚Homologie‘, also einer übereinstimmenden Meinung oder einem Konsens gekommen sind. Erst dann treten sie ein und wenden sich dem berühmten Gast zu. Die Botschaft ist klar und zweigeteilt: 1. Sokrates unterwirft sich keinen sozialen Taktungen und Strukturen und ist dabei als Gesprächspartner und Lehrer des Hippokrates übrigens alles andere als ein eigenbrötlerischer Soziopath; und 2. Beim wirklichen Nachdenken, beim Suchen nach bestimmter Erkenntnis zählt die soziale Zeit, die dabei vergeht, nicht. Es ist eine philosophisch diskursive Beschleunigung, die mit einer sozialen Verlangsamung korreliert: einer Verlangsamung in dem Erfüllen von sozialen Erwartungen. Ganz ähnlich können wir auch die Handlung im Dialog Gorgias jetzt noch genauer verstehen: Hier gibt es nicht nur eine Dynamik des Nachfragens und Widerlegens, die Gorgias bald nicht mehr aushalten will, sondern auch so etwas wie eine soziale Entschleunigung, weil Sokrates immer wieder darauf pocht, dass so ein Gespräch kein Wettkampf sein dürfe, sondern eine nur gemeinsam zu bewältigende Suche nach richtigem Wissen. So versucht er, den sozialen Druck aus dem Gespräch zu nehmen. Er verlangsamt also die aufgeheizte Atmosphäre im sophistisch-sokratischen Hexenkessel.

Ein Zugriff auf eine im platonischen Sinn spezifisch epistemische Beschleunigung könnte daher etwa so aussehen: Kernpraxis des Sokrates bei Platon ist die Suche nach begrifflicher Begründung, griech. logon didonai. Kriterium und Mittel dafür ist bei Platon die ‚Hypothesis‘, das ‚Zugrundelegen‘ der Idee, das heißt: die Einsicht, dass man immer, wenn man etwas erkennt, dieses Etwas als etwas Bestimmtes annimmt, das mit sich identisch und von anderem verschieden ist. Was damit gemeint ist, ist etwas auf den ersten Blick sehr Triviales: Wenn ich wissen will, ob etwas ein Tisch ist, dann lege ich zugrunde, dass das, was ich mit ‚Tisch‘ meine, etwas Bestimmtes ist, das verschieden von dem ist, was nicht Tisch ist. Also etwa: Tisch ist etwas, an das man sich setzen und auf das man etwas legen kann. Das kann man begreifen, aber nicht sehen. Es ist etwas Begriffliches. Während des Erkenntnisprozesses wird daran festgehalten und alles ausgeschlossen, was nichts mit dieser Bestimmung zu tun hat. Dazu gehören Eigenschaften wie ‚hat vier Beine‘ oder ‚hat eine Höhe von 60 cm‘ oder ‚ist geschmückt mit handgeschnitzten Ornamenten‘. Alles das ist verschieden von dem bestimmten Etwas, was wir meinen, wenn wir es als ‚Tisch‘ bezeichnen, und kann somit als bloß ‚akzidentell‘ von seinem Begriff ausgeschlossen werden. Akzidentell, griech. symbebekos, ‚beiläufig‘, bedeutet hier: Es ist ein sachfremder Zusatz, der an einem einzelnen Gegenstand vorliegen kann, aber auch durch etwas anderes ersetzt werden könnte, ohne dass dieser Gegenstand aufhörte, ein Tisch zu sein. Die Suche nach Erkenntnis erfolgt also durch Rückgriff auf etwas rein Begriffliches. Hier geht es nicht um Schnelligkeit im Sinne der messbaren physikalischen Zeit, sondern um die bestmögliche flexibelste Verfügbarkeit von Wissen. Denn wirklich flexibel und zu Fortschritt und Wandel in der Lage ist nach Platon nur ein Begründungswissen, ein Wissen, das Rechenschaft über die Gründe ablegen kann.

Die späteren Platoniker haben diese Orientierung auch als epistrophe, als ‚Rückwendung‘ zu den Sachprinzipien bezeichnet. Platons Sokrates macht im Dialog Phaidon deutlich, dass die Orientierung an der Idee das Prinzip für jede hinreichend begründete Erkenntnis ist. Die Einsicht, dass das so ist, war für den jungen Sokrates, so lässt Platon es ihn rückblickend im Phaidon berichten, die Befreiung aus einer Sinnkrise, in die ihn die unschlüssige Dogmatik der ionischen Naturphilosophie infolge seiner anfänglichen Begeisterung für deren universalen Erklärungsanspruch gestürzt hatte. Sie bot ihm die Möglichkeit, selbstbestimmt, mit eigener Kraft Erkenntnisse zu suchen und als gesichertes Wissen festzuhalten. Daher könnte man argumentieren, dass diese von Platon eingeführte Methode sozusagen paradigmatisch ist für das, was epistemische Beschleunigung im Sinne von Fundierung und kritischer Reflexion ist. Oder anders gesagt: Die Ideenlehre als Prinzip hinreichend begründeten Wissens ist der Motor für die Beschleunigung von Wissen überall dort, wo Theorie und Grundlagenforschung das Zentrum von Wissen und Wissenschaft sind. Denn nur damit kann sicher begründetes Wissen entstehen. Nur auf dieser Basis lässt sich eine theorieorientierte Wissenschaft als ein System von Erkenntnissen über unterschiedliche Gegenstandsbereiche aufbauen und miteinander vernetzen.

Einmal etabliert und in der Bildung verankert, ist die von Platon geforderte begriffliche Orientierung also ein echter Erkenntnis- und Wissensbooster. 

Das bedeutet keineswegs, dass die physikalisch messbare Zeit, innerhalb derer sich die Erkenntnisse vollziehen und innerhalb derer sich die in gemeinsamen Diskussionen wachsenden Wissensbestände aufbauen lassen, kürzer wäre. Eine Orientierung auf Begriffe und also auf die theoretischen Grundlagen, wie sie paradigmatisch von Platon und vielen antiken Platonikern postuliert und durchdacht wurde, hat andere Ziele als einen schnellen quantitativen Wissensfortschritt in Technik, Gesellschaft und Wirtschaft. Denn es geht dabei nicht darum, schnellstmöglich ein Wissen, das man besitzt oder meint zu besitzen, auf möglichst viele praktische Probleme anzuwenden und nutzbar zu machen und also epistemischen oder technischen Fortschritt zu produzieren. Sondern die Erkenntnisrichtung ist gerade entgegengesetzt. Sie führt zu den Prinzipien des eigenen Wissens, der Erkenntnis der eigenen Identität und der eigenen spezifischen Erkenntnisfähigkeiten. Dialektik, Erkenntnistheorie, Psychologie als Lehre von den seelischen Vermögen, Anthropologie als Wissenschaft von dem, was den Menschen zum Menschen macht, Ethik als Wissenschaft vom richtigen Handeln und größtmöglichen Glück, Wissenschaft von den Begriffen und von der empirischen Natur – alles das hat in der epistemischen Beschleunigung die größte Vernetzung untereinander. So schafft diese Beschleunigung Zugänge zu Welt und Selbst. Sie folgt nicht der Beschleunigungserwartung, immer schneller immer mehr verwertbares Wissen zu erwerben und anderen überall in Echtzeit zur Verfügung zu stellen.

Wenn man also fragt, ob es in den Platonischen Dialogen die Beschreibung epistemischer Beschleunigung gibt, dann lautet die Antwort zweimal Ja. Ja, weil Platon mit der Orientierung auf Begriffliches als Kriterium einen neuen Wissensbooster etabliert hat, und ja, weil in den Dialogen mit dieser Neuorientierung erhebliche soziale Beschleunigungen zwischen den Dialogpartnern, aber auch über die Textgrenzen hinaus im intellektuellen Austausch im 4. Jh. v. Chr. in Athen angestoßen wurden. Der Sokrates, der im Dialog Symposion die Premierenfeier (fast) verpasst, steht sinnbildlich für beides: für Beschleunigung in der theoretischen Reflexion und für das drängende Hinterfragen von Meinungen und Vorurteilen, das in der intellektuellen Elite Athens vorher nie dagewesene Dynamiken in Gang setzte.

Wissenswandel ist immer sozial konnotiert und hat Effekte auf soziale Konstellationen. Das gilt auch für Sokrates‘ Praktiken, wie Platon sie darstellt: z.B. dass dieser Sokrates das Zutrauen seiner Gesprächspartner in die Tragfähigkeit ihrer Meinungen und Überzeugungen erschütterte, dass er die traditionelle Werteordnungen auf ihre Begründungen hin befragte, dass er begründete Zweifel in seinen Zuhörern einpflanzte, durch die formale Rhetorik der Sophisten könne man Wissen erlangen usw. All das oder besser: die Praktiken des historischen Sokrates hatten im 5. Jh. ein Beben ausgelöst: Es gab scharfe Abwehrreaktionen von denen, die sich nicht in ihren Erkenntnisgewohnheiten stören, und von denen, die, wie die Sophisten, nicht ihre soziale Stellung in Frage stellen lassen wollten, Verunsicherung bei denen, die sich widerlegt sahen, Begeisterung und kritische Fragen bei den Jungen, die Sokrates‘ Philosophieren nachahmen wollten. Nach Sokrates‘ Hinrichtung war diese Unruhe sogar noch größer geworden. Platon zeigte, ganz ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen, in seinem ganzen Werk eine tiefe Erschütterung darüber, dass die Bürger Athens den Philosophen Sokrates dafür, dass er ihre epistemischen Kreise gestört hatte, hatten töten lassen. Den Siegeszug der Philosophie als Autorität in Bildungsfragen hat das nicht unerheblich beschleunigt. Das 4. Jh. ist in Athen geprägt von dem Aufstieg und Wettstreit großer Bildungseinrichtungen, die sich philosophisch nennen: Platons Akademie, das Lykeion des Aristoteles, aber auch die Rhetorikschule des Isokrates, der das, was er unterrichtete, ebenfalls ‚Philosophie‘ nannte.

Dynamiken in der Wissensgeschichte haben immer Aspekte sozialer Beschleunigung. Sie lassen sich sozialgeschichtlich und sozialdynamisch beschreiben. Sie fordern diese Einordnung ein. Texte wie die Platonischen Dialoge zeigen zugleich, dass es auch möglich ist, Beschleunigung oder Verlangsamung in der Genese und Veränderung von zu Wissen gerinnender Erkenntnis zu unterscheiden und dass es hier zwei grundverschiedene Richtungen in der Beschreibung und Analyse von epistemischer Beschleunigung gibt, die es lohnt, genauer auch unter dem Gesichtspunkt von sozialer und epistemischer Zeitlichkeit zu betrachten. Die Begründung von Meinungen durch rationale Gründe ist die ‚Bewegung‘, die Platon in seinen Dialogen betreibt und zu der er auffordert. Weil nach Platon nur so episteme, wirklich begründetes, als solches nicht widerlegbares Wissen, entsteht, kann man diese Bewegung ebenso wie die Beschleunigung, die sie in und durch die Schriften Platons erfährt, „wahrhaft“ (griech. ontos) epistemisch nennen.

Gyburg Uhlmann ist Professorin für Gräzistik an der Freien Universität Berlin und Projektleiterin am SFB 980.

Der Beitrag ist Teil der Serie Epistemische Beschleunigung.