In alten Büchern finden sich manchmal Unterstreichungen oder Randbemerkungen, die von Vorbesitzer·innen stammen. Bei tausenden dieser Annotationen in hunderten von Exemplaren lässt sich quantitativ ableiten, wie ein Buch, wie beispielsweise De Magnete von William Gilbert gelesen und rezipiert wurde.

Wer schon einmal gebrauchte Bücher gekauft oder entliehen hat, kennt das: Manchmal war vorher schon jemand am Werk. Der sterile Druck ist dann bereichert oder beschmutzt durch Unterstreichungen, Anstreichungen, Randbemerkungen, Korrekturen, Durchstreichungen, Skizzen aus der Hand vorhergehender Leser·innen. Diese finden sich auch zuhauf bereits in sehr alten Exemplaren wissenschaftlicher Bücher (Abb. 1). Die materiellen Träger wissenschaftlicher Texte, nämlich die einzelnen gedruckten Exemplare des Buches, waren, und sind, in der Regel die ersten und unmittelbaren Kontaktpunkte mit den Ideen anderer Forschenden. Und diese individuell erworbenen Exemplare wurden, und werden, für Leser·innen dann oft zum Gegenstand und Ort erster schriftlicher Reaktionen auf ihren Inhalt.

Vollständige Beispielseite mit Annotationen zur Kosmologie in William Gilberts "De magnete"
Abb. 1: Beispielseite mit Annotationen zur Kosmologie in William Gilberts De magnete (Edition von 1628, zum Original). Der Autor dieser Annotationen ist Andreas Granius, der sich auch, wenngleich kritisch, mit Gilberts magnetischem Kopernikanismus befasst.

Die Unterstreichung von Text zeigt mutmaßlich an, dass sich ein Leser besonderes für diesen Textteil interessierte.

Die erhaltenen Annotationen sind materielle Spuren vergangener Lektüren mit ideengeschichtlicher Bedeutung. An ihnen lässt sich die Rezeption wissenschaftlicher Publikationen historisch erforschen, anstatt danach zu suchen, wie eine Publikation auf eine andere reagiert – jenseits der üblichen intertextuellen Suche, wie die eine Publikation auf eine andere reagiert. ‘Material history’ und Ideengeschichte gehen eine aufregende Verbindung ein. Die Unterstreichung von Text zeigt mutmaßlich an, dass sich ein Leser besonderes für diesen Textteil interessierte, ein Eselsohr half, schnell eine wichtige Seite wiederzufinden und das vorsätzliche Herausreißen einer Seite deutet an, dass diese Seite etwas enthält, das nicht rezipiert werden sollte. Die Haltung zu und das Interesse an den im Text formulierten Ideen drückt sich durch den materiellen Umgang mit den Buchseiten aus, auf die der Text gedruckt wurde.

Heute werden derartige Lektürespuren in ausgeliehenen Büchern eher als Beschädigungen betrachtet (Link). Wertvolle alte Bücher und Handschriften werden vor diesen Eingriffen geschützt und ausschließlich digital kommentiert (siehe SFB-Blog-Beitrag). Historiker·innen aber geben handschriftliche Annotationen einen unverstellten, geradezu intimen, jedoch oft nicht leicht zu deutenden Einblick in die Rezeption konkreter Werke. Signifikante Rezeptionstendenzen lassen sich erst feststellen, wenn ähnliche Kommentare oder Markierungen in mehreren Exemplaren hinterlegt sind. Diese Forschungsperspektive ist keineswegs neu, aber lässt sich heute durch digitale Ressourcen und Methoden in ganz neuer Weise stützen und realisieren. Zum Beispiel erlauben miteinander vernetzte Bibliothekskataloge und umfassende Digitalisierungen von Büchern, schnell eine Vielzahl von Exemplaren einer Ausgabe aufzuspüren und zu untersuchen. Datenbanken verknüpfen diese externen Ressourcen, speichern und machen sie komplexen Analyseverfahren zugänglich. 

Die Datenbank Magnetic Margins

Das Projekt Magnetic Margins (magnetic-margins.com) leistet genau das: Diese Online-Datenbank verzeichnet eine Vielzahl von Exemplaren (copies) thematisch ausgewählter Ausgaben (editions) aus der Frühen Neuzeit und erfasst hierbei auch die Hinzufügungen der Leser·innen dieser Exemplare (Abb. 2). In einer “digitalen Archäologie” rekonstruiert sie die Rezeption von Ideen und Praktiken ausgehend von tausenden individuellen handschriftlichen Lektürespuren. Statistisch lässt sich so beispielsweise ermitteln, welche Seiten eines Buchs am häufigsten kommentiert, korrigiert oder zensiert wurden. Diese bottom-up Auswertungen stehen Besucher·innen als dynamische Tabellen und Diagramme zur Verfügung und sind unter Gesichtspunkten von Linked Open Data mit Ressourcen weit über die Datenbank hinaus verknüpft. Der Datenbestand wächst kontinuierlich und ist nicht an die Umfangs- und Zeitgrenzen einer Printpublikation gebunden.

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Abb. 2: Vereinfachtes Ontologie-Diagramm (PNG-Download) der Datenbank von www.magnetic-margins.com. Zu sehen sind an einem Beispielfall, wie Werk, Ausgabe, Exemplar und Annotation zusammenhängen. Die Verbindungslinien zeigen die entsprechenden Relationen im Vokabular der relevanten Ontologien, damit diese Daten auch von anderen Datenbanken interpretiert und nachgenutzt werden können.

Im thematischen Zentrum dieser Daten und Exemplare steht das frühneuzeitliche Wissen über den Magnetstein und den Magnetismus, genauer gesagt fünf Werke, die in dreizehn Ausgaben gedruckt wurden und in schätzungsweise über 1.000 Exemplaren überall auf der Welt verstreut in Bibliotheken und Sammlungen liegen (siehe Karte). In diesen Texten aus dem 16. und 17. Jahrhundert erforschen und beschreiben ihre Autoren erstmals umfassend, welche magnetischen Phänomene sie beobachteten, wie man diese zu erklären versuchte und welchen Platz der Magnetismus in der Natur einnahm. Besonders wichtige Fragen dieses neu entstandenen Forschungsbereiches waren etwa: Was wussten antike Autoren über den Magnet? Wie erklärte man die vermeintliche Fernwirkung der Anziehung von Eisen oder die Ausrichtung einer Kompassnadel zu einer Himmelsrichtung? Welche Experimente geben Aufschluss über magnetische Phänomene? Wie ließen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse praktisch nutzen, zum Beispiel in der Kompassnavigation der Seefahrt? Verstand man den Magnetismus als eine Art Grundkraft der Erde, die auch andere Naturphänomene bestimmt oder kosmologische Relevanz hat?

Die magnetische Kosmologie

Die wichtigste Publikation der Frühen Neuzeit, in der diese und eine Vielzahl ähnlicher Fragen verhandelt wurden, stammt vom britischen Anglikaner, Naturforscher und Arzt William Gilbert. Das 1600 erstmals in London gedruckte Werk De magnete wurde danach noch drei weitere Male verlegt oder nachgedruckt. Rund 370 Exemplare hiervon sind insgesamt bekannt und erhalten. Gilberts Werk ist auch deshalb ein spannender Fall für die Rezeptionsgeschichte, weil er eine magnetische Kosmologie propagiert, welche an die wohl wichtigste kosmologische Kontroverse seiner Zeit anknüpft: die Etablierung des kopernikanischen Weltbildes.

Gilbert argumentiert, dass die Erde selbst ein großer Magnetstein sei und die von Kopernikus beschriebene Erdrotation durch eine der Erde eigene, gewissermaßen “lebendige” magnetische Kraft entstehe. Seine Theorie wirkt aus heutiger Sicht etwas konfus. Sie fand seiner Zeit jedoch großen Anklang, stieß aber auch auf vehemente Gegenwehr. Vertreter des damals vorherrschenden, oft biblisch untermauerten Weltbildes einer im Zentrum der Welt ruhenden Erde nahmen Gilberts Werk in Sippenhaft um warfen ihm Häresie vor: Gilbert vertrete die – vor allem von Katholiken – verbotene kopernikanische Lehre. Der glühende Kopernikaner Galileo Galilei hatte sich auf Gilbert berufen, wenn auch nicht direkt auf dessen magnetische Kosmologie. Der öffentlichkeitswirksam geführte Prozess gegen Galileo färbte die Rezeption von Gilberts Werk zusätzlich ein. Jesuiten publizierten Werke, in denen explizit argumentiert wird, dass die Erde kein Magnet sei. Gilberts Werk wurde später nicht ohne Grund außerhalb der territorialen Wirksamkeit katholischer Zensur neu verlegt, in Stettin und Frankfurt.

Von marginalem Interesse?

Was interessierte die Leser·innen früherer Jahrhunderte an Gilberts Werk und lässt sich dieses Interesse an handschriftlichen Anstreichungen und Anmerkungen in gedruckten Exemplaren ablesen? Der vorhandene Datensatz gibt hierauf erste Antworten. Wie bei jeder systematischen Erfassung von Daten müssen einige Annahmen und Festlegungen getroffen werden, wie diese Annotationen klassifiziert, gewichtet und ausgewertet werden. Diese Parameter sind komplex und lassen sich im Kontext meiner Betrachtungen hier nur streifen.

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Abb. 3: Vorläufige statistisch-grafische Auswertung für Gilberts De magnete (PNG-Download). Seiten sind hier zu Kapiteln zusammengefasst, deren Anordnung auf der x-Achse aber ihrer Reihenfolge im Buch entspricht. Alle Annotationen werden pro Kapitel über alle Exemplare hinweg summiert und mit der Anzahl der Exemplare multipliziert, in denen das entsprechende Kapitel annotiert wurde. Hieraus ergibt sich eine relative Gewichtung (absolute y-Werte sind also irrelevant), die normalisiert, wenn nur sehr wenige Exemplare sehr viele Annotationen zu einem Kapitel haben, was eine statistische Verzerrung bedeuten würde.

Auffallend ist: Gilbert selbst argumentiert immer wieder, dass Wissen nicht aus Büchern, sondern aus Experimenten gezogen werden solle, obgleich er selbst sehr umfangreiche Zusammenstellungen der Meinungen und des Wissens seiner Vorgänger·innen leistet. Und genau diese Kapitel – das erste Kapitel des ersten Buches und das zweite Kapitel des zweiten – sind die mit großem Abstand am häufigsten und umfangreichsten annotierten (Abb. 3). Umgekehrt sind es, über alle Exemplare hinweg gemittelt, die Teile seines Werks, die insbesondere Experimente und Anwendungen des Wissens beschreiben, die am wenigsten annotiert wurden. Das ist fast schon ironisch, da Gilberts Vermächtnis historiographisch schon kurz nach seinem Tod (etwa von Francis Bacon oder René Descartes), aber auch noch im 20. Jahrhundert (etwa von Edgar Zilsel oder Richard Foster Jones) als ein Insistieren auf Experimenten und als seine Ablehnung von ‘Buchwissen’ interpretiert wurde. Aber vielleicht sagen die bisherigen Befunde auch mehr darüber aus, wer Exemplare annotiert hat, welche Exemplare erhalten sind, oder wozu Annotationen überhaupt gedacht waren. Korrekturen des eindimensionalen Gilbert-Bildes sind längst von Forschenden vorgenommen worden, und diese Rezeptionsgeschichte fügt einen weiteren Blickwinkel hinzu: Gilberts Werk wurde offenbar auch humanistisch als Fundus doxographischen Wissens gelesen.

Selbstverständlich gibt es spannende, konträre Einzelfälle: So faszinierten sich drei Leser für so ziemlich alles und ließen kaum eine Seite unbeschrieben. Der erste war der eher “akademisch-konservative” Universitätsprofessor aus Helmstedt, Andreas Granius (1569–1631), dessen Gilbert-Exemplar (Nc 4° 46) heute in Wolfenbüttel liegt. Der zweite, Anthony Linton (17. Jahrhundert), war eher ein Mann des angewandten Wissens, der ein Handbuch der Navigationskunde verfasste und dessen Gilbert-Exemplar (STC 11883 (B)) heute in der Houghton Library der Harvard Universität liegt. Der dritte ist Sebastian Schobinger, Bibliothekar, Humanist und Arzt in St. Gallen, wo der Band bis heute Teil der Vadianischen Sammlung ist (VadSlg KB 190). So zeigt sich, dass obwohl die Bildungshintergründe dieser Leser kaum unterschiedlicher sein könnten, ihr “Annotationsverhalten” – und davon abgeleitet ihr Interesse an den Inhalten von Gilberts Werk – doch große Überschneidungen haben.

Wie gingen die Leser·innen nun konkret mit dem umstrittenen kosmologischen Akzent in Gilberts Werk um?

Findet die kosmologische Kontroverse auch am Seitenrand der Exemplare seines Werkes ihren Ausdruck? Oder wurde das Thema schlichtweg ignoriert? Tatsächlich enthält der kosmologische Schlussteil von De magnete mehr Annotationen als die Teile zur Kompassnavigation oder einzelnen (geo)magnetischen Phänomenen. Klare Bekenntnisse aus dem 17. Jahrhundert zur kopernikanischen Kosmologie ließen sich am Seitenrand der Gilbert-Exemplare bisher nicht finden – nicht einmal in erhaltenen Exemplaren, die bekennenden Kopernikanern gehörten und dies vielleicht vermuten ließen. Wirft man man beispielsweise einen Blick in die Gilbert-Exemplare von Galileo Galilei (Florenz, RARI B.R.121) und seinem Schüler, Vincenzo Viviani (Florenz, MEANT E.8.2.29) – beides Kopernikaner – stellt man fest, dass sie in ihren Anmerkungen mit dem Lektürestift keine Lanze für den Heliozentrismus brechen.

In einem Exemplar (Wiesbaden, 60 Th 1218), dessen Vorbesitzer·in namentlich nicht bekannt ist, wurde Gilbert mit der lateinischen Übersetzung von Galileos kopernikanischen Hauptwerk Dialogo zusammengebunden. In wieder einem anderen Gilbert-Exemplar (Offenbach, 219180) fügte ein·e Vorbesitzer·in ein wörtliches Zitat aus diesem Werk Galileis über Gilbert hinzu, das jedoch eher auf Gilberts mangelnde Fähigkeiten in Bereichen der Mathematik abhob. Auch in diesen Fällen bekennen die Leser·innen keine Farbe und outen sich als Kopernikaner·innen!

Durch Owen Gingerichs Studie zu den Exemplaren von Kopernikus’ De revolutionibus (1543) wissen wir, dass Zuspruch zum Heliozentrismus durchaus auch in Annotationen ausgedrückt wurde. Warum dies in Exemplaren von Gilberts nicht zu finden ist, könnte auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein. Es war zum einen keine einschlägige astronomische Publikation, die entsprechend eine andere Leserschaften anzog. Zum anderen erschien De magnete deutlich später als Kopernikus’ Werk, nämlich zu einer Zeit, als der Heliozentrismus bereits Gegenstand offizieller Zensur wurde, was eher für Zurückhaltung gesorgt haben dürfte. Denn als gänzlich geheim und privat waren die Anmerkungen in den wertvollen, meist vererbten Exemplaren dann vielleicht doch nicht einzuschätzen. Die über 60 Exemplare, die Annotationen zum kosmologischen Thema enthalten, sich aber wertfrei den Inhalten widmen, zeigen allerdings durchaus ein Interesse am kosmologischen Thema.

Es finden sich auch einige Exemplare, die Stellung gegen den Kopernikanismus beziehen. Die klarsten und gleichzeitig wenig differenzierten Stellungnahmen sind Spuren der Buchzensur. Hier drückt sich eine Wissensdynamik der Negation (siehe SFB-Sammelband-Publikation) aus, da bewusst bestimmte Behauptungen und Argumentationen aus dem Druckbild getilgt wurden. Die Auseinandersetzung ist hier also weniger argumentativ als performativ: “mutilated copy” nennen sich Exemplare, in denen etwa ganze Seiten entfernt wurden. Ob und durch wen diese Zensuren im Einzelfall organisiert waren, lässt sich nicht immer sagen, zumal Gilberts Werk nie in den sogenannten Index der Verbotenen Bücher aufgenommen wurde. In drei Exemplaren (Florenz, MED 1919/ 02; Imola, 100O0030241; New York, RB) wurden etwa die rund 30 Seiten zur Kosmologie herausgeschnitten und Verweise an anderen Stellen im Buch geschwärzt. In einem anderen Exemplar (Rom, BNC, 55. 10.D.9) wurden diese Seiten und Stellen jedoch nur mit schmaler Feder einmal durchgestrichen – eine Art Lippenbekenntnis zur Zensur, da die Inhalte hervorragend lesbar blieben. Andere Fälle sind subtiler: So spöttelte Granius in einem Randkommentar scheinbar, dass Gilbert den “Gordischen Knoten” eines im Zusammenhang mit der kopernikanischen Lehre stehenden Problems gelöst habe. Und Linton schrieb ans Ende seines Exemplars einen lateinischen Zweizeiler, den John Owen 1606 spöttisch an Gilbert gerichtet gedichtet hatte: „Du verneinst, dass die Erde stillsteht; Du erzählst uns Wunder/ Als du dies schriebst, standest du wohl auf einem Floß!”

Ausblick

Die vielen in der Datenbank gesammelten Annotationsquellen sind ein Fundus für zukünftige Forschung und werden zu diesem Zweck der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Neben Analysen von Einzelfällen bietet die statistische Auswertung schon jetzt erste belastbare Resultate, die sich nachprüfen und -rechnen lassen, denn nicht nur die Daten sind öffentlich, auch die Prinzipien der Dateneingabe werden transparent dokumentiert. Bei rund 8.000 Annotationen treten aufgrund der üblichen Komplexitätsreduktionsmechanismen Einzelfälle zuweilen in den Hintergrund. Die Grundannahmen der Ontologie der Datenbanken entsprechen zum einen bibliographischen und paläographischen Konventionen und schließen zum anderen an bestehende und bewährte digitale Ontologien für Kulturerbe an.

Erst die große Anzahl von potentiell unterbestimmten Annotationen lassen Muster und damit Korrelationen erkennen.

Warum ist eine quantitative Auswertung sinnvoll und welche Fragen kann sie beantworten? Die allermeisten Annotationen sind für sich genommen eher nichtssagend – ein Strich am Seitenrand hier, eine Unterstreichung dort. Zudem ist meist auch unbekannt, wer, wann und wo die Annotation genau gemacht hat. Durch diese Unterdeterminiertheit entziehen diese Quellen sich traditionellen hermeneutischen Verfahren, die in der Regel Aussagen zum Gegenstand haben und die individuellen, etwa biographischen Kontexte ihrer Entstehung berücksichtigen oder voraussetzen. In diesen (meisten) Annotationen kommt dennoch ein Wissen zum Ausdruck, das man als materielle Spur einer epistemischen Tätigkeit verstehen kann. Das reagierende, annotierende Lesen eines Buches bringt dieses Wissen hervor bzw. verleiht ihm Ausdruck. Die einzelne Annotation – meistens kaum mehr als ein Tintenklecks – überdauert und manifestiert die epistemische Lektüretätigkeit als statisches Artefakt mit nicht propositionaler, sondern eher performativer Bedeutung. Aus der einzelnen Annotation allein lässt sich vergleichsweise wenig deduzieren. Erst die große Anzahl von potentiell unterbestimmten Annotationen lassen Muster und damit Korrelationen erkennen. Damit werden sie zur Grundlage einer begründeten, komplexen Interpretation. Aus der Distanz und unter Einbeziehung ganz vieler Tintenkleckse entsteht also ein Bild, das für Historiker·innen interpretierbar wird. Genau diese distanzierte und strukturierte Analyse wird durch digitale und computationale Methoden ermöglicht.

Wie sehen diese Methoden aus? Die statistischen Verfahren, die die Häufigkeit von Annotationen pro Träger (Seite, Kapitel, Exemplar, Ausgabe, Werk) zählen, sind leicht nachvollziehbar: Je mehr Annotationen pro Seite über alle Exemplare hinweg, desto größer das mutmaßliche Interesse an den Inhalten auf dieser Seite. Etwas komplizierter zu verstehen sind andere Häufigkeitszählungen und Komplexitätsreduktionsalgorithmen. So lässt sich beispielsweise fragen: Wie häufig werden bestimmte Träger in einem Exemplar gemeinsam annotiert? Wer viel in Kapitel A annotierte, tat dies vielleicht statistisch häufig auch in Kapitel C, aber nicht in Kapitel B. Dies setzt dann auch die Inhalte dieser Kapitel in ein erhellendes Verhältnis, ähnlich wie ein Online-Shop „Kunden, die X kauften, kauften auch Y“ auswertet. Ebenso lässt sich aus den annotierten Trägern (oder anderen Eigenschaften der Annotationen) als Vektor eine Art Fingerabdruck jedes Exemplars ermitteln. Diese Vektoren der Exemplare ähneln dann einander unterschiedlich stark und lassen sich etwa in einem Graph platzieren. Hier lassen sich dann Cluster erkennen, die man interpretieren kann als Menge von Exemplaren, in denen ähnliche Themen auf Interesse stießen. Dies ließe sich dann historisch auf Zeiträume der Annotationen beziehen oder auf fachliche Hintergründe der annotierenden Personen.

Diesen komplexeren quantitativen Untersuchungen, wie sie bereits eindrucksvoll im Projekt The Sphere (hierzu auch im Podcast des SFB) für historische Quellen erprobt wurden, widmet sich das Projekt Magnetic Margins als nächstes.

Christoph Sander ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt B06 des SFB 980 Episteme in Bewegung.