Was kann man über Wasser wissen, bevor man weiß, dass es aus Molekülen besteht? – Erstaunlich wenig. Dafür, dass Wasser schon in der Antike als die Grundlage allen Lebens galt, hat Wasser als Gegenstand des Wissens erst sehr spät die Bühne betreten.

Zum Gegenstand des Wissens wird Wasser in einem Grenzbereich der Alchemie und dem, was man später irgendwann die Balneologie genannt hat, das ‚Bäderwesen‘. Die heilende Kraft von Bädern war schon in der Antike bekannt, um 1500 aber beginnt man sich zu fragen, worin eigentlich genau die heilende Kraft eines bestimmten Wassers besteht. 1535 widmet Paracelsus dem Ort Pfäfers im Schweizer Kanton St. Gallen eine Schrift, in dem er die heilenden Kräfte des dort in einer entlegenen, engen Schlucht entspringenden Wassers über die Maßen lobt: Vonn dem Bad Pfeffers in Oberschwytz gelegen Tugenden, Krefften vnnd würckung Ursprung vnnd herkommen Regiment vnd Ordinantz. In den ersten Sätzen dieser unscheinbaren, nur knapp zwanzig Seiten umfassenden Schrift formuliert Paracelsus seine neue Theorie der Materie: „Alle ding so sich vff erden erzeigend/ sind vß dryen gemacht: namlich vß Sulphur/ Mercurio vnd Sale/ wie dann in gutem wüssen der philosophy ist/ in der gebärung der metallen kyssteinen vnd gemmen.“ Aus „Sulphur“, „Mercurius“ und „Sal“ besteht jede Materie. Mit „Sulphur“ ist dabei nicht der gewöhnliche Schwefel gemeint. Der Begriff bezeichnet bei Paracelsus vielmehr das Prinzip des Brennbaren, genauso wie „Mercurius“ nicht das gewöhnliche Quecksilber bezeichnet, sondern (analog zu den Eigenschaften des Quecksilbers) das Flüssige, Verdampfende und Rauchende. „Sal“, das Salz bezeichnet das Körperlich-Feste, das sich (analog zu den Eigenschaften des Salzes) verflüssigen, aber nicht verbrennen lässt.

Diese drei Prinzipien sind nach Paracelsus nicht nur in jedem chemischen Prozess vertreten, sondern bilden grundsätzlich die Prinzipien der Natur.

Die (al)chemisch verfahrende Pharmazeutik des Paracelsismus erklärt sich aus diesem Kern, insofern jede Therapie mit diesen drei Elementen rechnen muss.

Der „Sulphur“ als das selbst formlose, aber formgebende Prinzip kann durch (al)chemische Prozesse (vor allem Destillation) aus allen Dingen extrahiert und dann in der Gestalt von Pharmaka auf den menschlichen Körper übertragen werden. Dem „Mercurius“ kommt bei Prozessen des Verflüssigens und Auflösens entscheidende Bedeutung zu, dem „Sal“ bei Prozessen der Verfestigung und ‚Verkörperung‘. Analog dazu entstehen nach Paracelsus Krankheiten, indem sich die natürliche Feuchte im Körper erhöht, Dünste entstehen oder sich Stoffe ablagern, also verfestigen. Paracelsus denkt damit physiologische Prozesse als chemische Prozesse.

In jedem Fall ist diese Theorie des Paracelsus von größter Bedeutung für das Wissen über Wasser, wie in der Schrift über Pfäfers deutlich wird. Paracelsus nämlich bringt das tief aus dem Gebirge entspringende Wasser von Pfäfers mit der vulkanischen Tätigkeit, wie sie in Sizilien zu beobachten ist, in Verbindung und erklärt die konkrete Zusammensetzung der Quelle von Pfäfers mit den vulkanischen Tätigkeiten im Inneren der Erde. Indem der menschliche Körper in seiner Verbindung von „sulphur“, „mercurius“ und „sal“ analog zu dem funktioniert, was sich im Inneren der Erde im Zusammenspiel von vulkanischem Feuer, Wasser und Mineralien abspielt, kommen dem Wasser von Pfäfers ganz bestimmte heilende Fähigkeiten zu. Ihnen gilt das eigentliche Interesse des Paracelsus und in der Folge des Textes beschreibt er, für genau welche Krankheiten man sich nach Pfäfers begeben solle und für welche anderen Krankheiten ein Aufenthalt dort nichts bringt oder sogar schädlich ist. Zu den Krankheiten, die sich in Pfäfers therapieren lassen, gehören etwa die Gicht, Gliederschmerzen, durch die Galle verursachte Krankheiten, Schlaganfälle, die Krätze, eiternde Wunden, die durch die Blattern verursachten Schäden, schlecht verheilende Brüche oder Verletzungen und erfrorene Glieder. Nicht nach Pfäfers gehören etwa alle Formen des Aussatzes, die Wassersucht und die Fallsucht (also die Epilepsie). Grundsätzlich sollten cholerisch veranlagte Menschen („alle die so zum grimmen von zorn geneigt sind“) das Wasser von Pfäfers meiden.

Unabhängig von diesen konkreten, mehr oder weniger bizarren Empfehlungen ist es offensichtlich, welches Potential die paracelsische Theorie für die Analyse des Wassers hat: Es ist die konkrete geographische Lage, die dafür verantwortlich ist, dass ein Wasser bestimmte therapeutische Wirkungen hat.

Diese geographische Lage entscheidet, welche Anteile von „sulphur“, „mercurius“ und „sal“ einem Wasser zukommen. Indem der menschliche Körper nach denselben Prinzipien funktioniert, kann ein bestimmtes Wasser für bestimmte Krankheiten heilende Wirkung entfalten. Man muss nur die paracelsischen Prinzipien durch einen Begriff wie ‚mineralischer Gehalt‘ austauschen und man sieht, wie hier bei Paracelsus ein neues Wissen über Wasser entsteht.

Genau diesen Schritt geht knapp vierzig Jahre später Leonhard Thurneysser zum Thurn. Wie Paracelsus ist Thurneysser ein Schweizer, den es allerdings nach Berlin verschlagen hat, zu diesem Zeitpunkt noch eher ein Außenposten der Zivilisation. Tobias Bulang hat dem Werk und Leben Thurneyssers in den letzten Jahren einige grundlegende Studien gewidmet, auf die hier stellvertretend für die Forschung verwiesen sei, vgl. v.a. Tobias Bulang: Überbietungsstrategien und Selbstautorisierung im „Onomasticon“ Leonhard Thurneyssers zum Thurn. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450-1620). Hg. v. Jan-Dirk Müller u.a. Berlin, Boston 2011, S. 699-729 und ders.: Die Welterfahrung des Autodidakten. Fremde Länder und Sprachen in den Büchern Leonhard Thurneyssers zum Thurn. In: Daphnis 45 (2017), S. 510-537. 1572 publiziert Thurneysser in Frankfurt an der Oder das erste größere Werk, das allein dem Wasser gewidmet ist: Pison, Das erst Theil. Von Kalten/ Warmen/ Minerischen vnd Metallischen Wassern/ sampt der vergleichung der Plantarum vnd Erdgewechsen. Wie Paracelsus versteht sich Thurneysser als Alchemiker. Seine Karriere ist in mehr als einer Hinsicht für die frühneuzeitliche Alchemie typisch. Thurneysser hat nie studiert und erst spät Latein gelernt. Stattdessen hat er in Basel, seinem Geburtsort, eine Ausbildung als Goldschmied gemacht. Seine eigentliche Karriere beginnt er in den Bergwerken Tirols, die Mitte des 16. Jahrhunderts einen unglaublichen Aufschwung erleben. Thurneysser leitet dort ein Bergwerk und legt auch – unter anderem – eine erfolgreiche Schmelz- und Schwefelhütte an.

Farbiges Aquarell der Klosterkirche in Berlin mit Straßenszene von Johann Stridbeck aus dem Jahr 1690.
Abb. 1: Die Klosterkirche in Berlin, 1690

1571 ist er in Frankfurt an der Oder, um dort den Druck von Pison zu überwachen. Er macht die Bekanntschaft des brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg und unterzieht dessen Gattin erfolgreich einer medizinischen Kur auf der Grundlage einer paracelsischen Medikation. Von nun an gilt er als ‚Wunderdoktor‘. Der Kurfürst ernennt ihn – der nie studiert hat – zu seinem Leibarzt, stattet ihn mit einem exorbitanten Gehalt aus und überlässt ihm in Berlin ein ehemaliges Franziskanerkloster, das ‚Graue Kloster‘. Hier baut Thurneysser in den nächsten Jahren ein äußerst erfolgreiches Unternehmen auf, das im Kern auf einem pharmazeutischen Labor und einer Druckerei besteht. Teilweise arbeiten dort bis an die zweihundert Angestellte für ihn. Um 1580 nimmt Thurneyssers Karriere mit seiner dritten Frau, einem trunksüchtigen Bruder und diversen juristischen Streitereien mit seiner Heimatstadt Basel ein abruptes Ende. Unter nicht ganz geklärten Umständen verlässt er Berlin, geht nach Rom und konvertiert zur katholischen Kirche. 1595 taucht er in Köln auf, wo er – wohl verarmt – stirbt.

Das Werk, mit dem seine Karriere am brandenburgischen Hof beginnt, ist das bereits genannte Pison, das der Analyse der europäischen Gewässer gewidmet ist und das mit seinem Titel den ersten der vier Flüsse im Titel führt, in die sich nach Gen 2,10–14 der im Paradies entspringende Strom aufteilt. Das Werk ist ursprünglich auf vier, ganz Europa umspannende Bände angelegt, von denen die anderen drei allerdings nie erschienen sind. Aber schon der erste Band ist beeindruckend. Er bietet auf 420 Seiten eine detaillierte Beschreibung der deutschen Gewässer und ihres jeweiligen Mineralgehalts sowie deren pharmazeutischer Wirkung, durch umfangreiche Register erschlossen. Es handelt sich um eine ungeheure Masse von geographischem, mineralogischem, limnologischem, botanischem und allgemein naturkundlichem Wissen, das Thurneysser zum Teil tatsächlich auf seinen eigenen, ausgedehnten Reisen gesammelt hat, zum Teil wohl sich hat berichten lassen, zum Teil aus Reiseberichten und älterer Literatur zusammengeschrieben hat – und zum Teil wohl auch einfach erfunden hat.

Das erste Buch formuliert eine Theorie, „woher die Wasser ihr Metallische vnd Minerische krafft empfahen“, im zweiten Buch stellt Thurneysser die Instrumente vor, die er zum „Probieren“ des Wassers – heute würde man von chemischer Analyse sprechen – entwickelt hat, das dritte Buch behandelt Möglichkeiten, künstliche Mineralwässer herzustellen (also Wasser mineralisch anzureichern), im vierten Buch gibt Thurneysser Anweisungen für die Einrichtung „künstlicher Bäder“ und die pharmazeutische Wirkung der jeweiligen Mineralien, mit denen diese Bäder angereichert werden können. Mit dem fünften, der Donau und ihren Zuflüssen gewidmeten Buch wendet Thurneysser sich dann der Geographie und Limnologie zu. Das sechste Buch gilt dem Rhein und seinen Zuflüssen, das siebte der Elbe, das achte der Ems, das neunte der Weser und das zehnte der Oder.

Das Prinzip, das Thurneysser in diesem Werk für die Analyse des mineralischen Gehaltes von Wasser entwickelt, ist im Kern noch heute gültig.

Thurneysser lässt eine Wasserprobe verdampfen, glüht die Rückstände und zieht aus der Färbung der Flamme Rückschlüsse auf die vorhandenen Substanzen. Gernot Rath: Die Anfänge der Mineralquellenanalyse. In: Medizinische Monatsschrift 3 (1949), S. 539-541. Detailliert werden in Pison die dafür notwendigen Instrumente beschrieben und abgebildet. Im zweiten Teil des Buchs, der den deutschen Gewässern gewidmet ist, werden die Ergebnisse dieser Mineralanalyse für jeden Fluss einzeln dargestellt. Diese Ergebnisse setzt Thurneysser dann wiederum in Bezug zu den Pflanzen, die an diesen Flüssen wachsen, was – wie Thurneysser bereits erkennt – Einfluss auf diese Pflanzen und ihre jeweilige pharmazeutische Wirkung hat. Während die Bedeutung des mineralischen Gehaltes auf die Pflanzen heute niemand mehr bestreiten wird, sieht es mit den konkreten Analysen einzelner Gewässer etwas anders aus: Sie halten einer heutigen Überprüfung nicht stand und wurden (offensichtlich ein Euphemismus) als „reine Hypothesen“ bezeichnet.

In der Tat hat Thurneysser in der Wissenschaftsgeschichte einen sehr schlechten Ruf. Nicht nur gilt er als „Alchemist“ (was ja per se schon anrüchig ist), sondern auch und vor allem als Scharlatan, indem er etwa in seinen Büchern Sprachkenntnisse vortäuscht, die er offensichtlich nicht besaß. In der Berliner Lokalgeschichtsschreibung hat man es ihm besonders übelgenommen, dass er in Pison behauptet hatte, ausgerechnet in der Spree sei Gold zu finden. Gabriele Spitzer: … und die Spree führt Gold. Leonhard Thurneysser zum Thurn. Astrologe, Alchemist, Arzt und Drucker im Berlin des 16. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog der Staatsbibliothek zu Berlin. 2. Aufl. Wiesbaden 2001.

Auf der anderen Seite ist Thurneysser eben doch der erste, der auf die Idee gekommen ist, Wasser einer quantitativen chemischen Analyse zu unterziehen. Er tut dies als ‚Alchemist‘ und als Paracelsist. Knapp zwanzig Jahre später übernimmt Andreas Libavius das von Thurneysser beschriebene Verfahren in seine Alchemia (1598), die (trotz ihres Titels) als das erste Lehrbuch der Chemie gilt. Von hier wird das Verfahren dann über die Jahrhunderte weitergereicht.

Richtungsweisend war Thurneysser noch mit einer weiteren Konsequenz seiner paracelsistischen Überzeugungen.

Wenn Paracelsus nämlich in seiner Schrift über Pfäfers eine Verbindung zwischen dem Inneren der Erde und dem Inneren des menschlichen Körpers hergestellt hatte, dann präzisiert Thurneysser diese Verbindung, indem er den menschlichen Urin derselben Methode unterzieht, die er zur Analyse des Mineralgehaltes von Wässern entwickelt hat.

In der Vorrede zu Pison schreibt Thurneysser, wie es „augenscheinlich“ sei, dass man an den „wasserflüßlein/ so aus dem aller tiefesten gebirg“ entsprängen, erkennen könne, aus welchen Metallen und Gesteinen dieses Gebirge gebildet sei, so könne man am Urin des Menschen „die Wurtzel der gründ vnd vrsprüng/ aller im geblüt liegenden gepresten“ erkennen. „Dann dis ist einmal gewis/ das die wasser der Metallen/ die Harn aber der Morborum arten in jnen subtiler weis/ vnd geistlich in sich füren/ von denen sie (wie hernach folgt) ihren vrsprung nemen.“

Im Grauen Kloster macht Thurneysser diese Entdeckung ökonomisch nutzbar, indem er die Analyse von Urinproben in einem eigenen Labor anbietet. Der Erfolg seiner neuen Analysemethode war so groß, dass ihm diese Proben teilweise über weite Entfernungen zugeschickt wurden. Zu Thurneyssers Unternehmungen im Grauen Kloster ist noch immer eine Studie aus dem 18. Jahrhundert grundlegend, vgl. Johann Karl Wilhelm Moehsen: Leben Leonhard Thurneissers zum Thurn, Churfürstl. Brandenburgischen Leibarztes. Ein Beitrag zur Geschichte der Alchymie, wie auch der Wissenschaften und Künste in der Mark Brandenburg gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts. In ders.: Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in der Mark Brandenburg von den ältesten Zeiten an bis zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts. Berlin, Leipzig 1783, S. 1-198. Auch als Nachdruck München 1976.

Wer Thurneysser seinen Urin zur Analyse schickte, bekam von diesem dann nicht nur eine ausführliche Analyse, sondern – so gewünscht und bezahlt – auch gleich die entsprechende Medikation aus Thurneyssers eigener Apotheke.

Teilweise hatten die Boten, die Thurneysser den Urin brachten, gleich das Geld dabei, das die entsprechenden Medikamente kosten würden, die Thurneysser ihnen mit auf den Rückweg gab. Der in der Staatsbibliothek Berlin liegende Nachlass Thurneyssers zeigt, dass ihm der Urin täglich nicht nur aus der Mark Brandenburg, sondern auch aus Hamburg, Bremen, Lübeck, Straßburg, Basel, Kassel, Augsburg, München, Wien, aus Böhmen, Mähren, Schlesien, Polen und Preußen mit eigenen Boten in versiegelten Gefäßen zugeschickt wurde, zusammen mit dem Geld für die Analyse und die aus dieser Analyse resultierenden Arzneimittel. Fürsten schicken ihm ihre Diener zur Ausbildung, wofür Thurneysser wiederum Lehrgeld verlangte. Thurneysser bot damit im Grauen Kloster das komplette Programm an, von der chemischen Analyse über die Diagnose bis zu Herstellung und Vertrieb der Medikamente.

Er ließ es sich auch nicht nehmen, seine neue Technik öffentlichkeitswirksam in einem Buch zu beschreiben, das – wie aus den Abrechnungen der Buchmessen hervorgeht – ein Bestseller war. Der merkwürdige Titel der Schrift lautet: Βεβαίωσις ἀγωνίσμοῦ. Das ist Confirmatio Concertationis/ oder ein Bestettigung deß Jenigen so Streittig/ häderig/ oder Zenckisch ist/ wie dann auß unverstandt die Neuwe und vor unerhörte erfindung der aller Nützlichesten und Menschlichem geschlecht der Notturftigesten kunst deß Harnprobirens ein zeitlang gewest ist. Der griechische Titel dient sicherlich nur dem Nachweis der griechischen Sprachkenntnisse (die er höchst wahrscheinlich nicht besaß). Die „unerhörte Erfindung“, deren sich Thurneysser rühmt, ist die neue Technik der Harnprobenanalyse, die er detailliert beschreibt, einschließlich der zur Anwendung kommenden Instrumente und eines von Thurneysser selbst entworfenen, ausschließlich der Harnprobenanalyse dienenden Ofens.

Historische Abbildung. Von Thurneysser für das Verdampfen der Harnproben entwickelter Ofen. Teile der Abbildung bestehen aus aufklappbaren Elementen, die das Innere des Ofens sichtbar machen. Die Reagenzgläser mit den Harnproben kommen dort zu stehen, wo die kleinen Köpfe aus der Ofenplatte ragen. Das geflügelte Pferd mit dem Wappenschild und dem Astrolabium ist Thurneyssers Wappen.
Abb. 2: Von Thurneysser für das Verdampfen der Harnproben entwickelter Ofen

Thurneyssers Technik der Harnprobenanalyse beruht dabei auf derselben Methode wie seine Analyse des mineralischen Gehaltes von Gewässern – was voraussetzt, dass der menschliche Körper analog zur anorganischen Natur gedacht wird.

Wie die Gewässer durch ihren Mineralgehalt die Zusammensetzung des Erdinneren zu erkennen geben, so kann man am mineralischen Gehalt des Urins den Zustand und die Krankheiten des menschlichen Körpers erkennen. Johanna Bleker: Chemiatrische Vorstellungen und Analogiedenken in der Harndiagnostik Leonhart Thurneissers (1571 und 1576). In: Sudhoffs Archiv 60 (1976), S. 66-75. Zwar begründet Thurneysser seine neue Analysemethode spekulativ (mit der tria prima-Lehre, wie schon Paracelsus in der Schrift über Pfäfers) und greift bei der Diagnose auf analogische Begründungen zurück (indem er aus dem genauen Ort der Ablagerungen im Reagenzglas Schlüsse auf die jeweiligen Krankheiten zieht), aber mit dem Grundgedanken, die Harnschau nicht nur auf Geruch, Aussehen und Konsistenz des Urins zu beschränken (wie seit der Antike praktiziert), sondern ihn einer chemischen Analyse zu unterziehen, betritt Thurneysser Neuland. In der Medizingeschichte wird ihm zugestanden, als erster den Versuch unternommen zu haben, mit Hilfe eines Destillationsverfahrens die ‚chemisch‘ gedachten Krankheitsursachen qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Peter Morys: Medizin und Pharmazie in der Kosmologie Leonhard Thurneissers zum Thurn (1531-1596). Husum 1982, S. 77. Thurneysser wäre damit auch „ein frühes Beispiel für die erfolgreiche Einführung eines technischen, apparativen Verfahrens in die medizinische Diagnostik.“ Michael Stolberg: Die Harnschau. Köln u.a. 2009, S. 92.

Für die Geschichte des (al)chemischen Wissens – und damit auch für eine Geschichte des Transfers dieses Wissen – ist Thurneyssers ein schönes Beispiel, das nicht nur die Alchemie entmystifiziert, sondern eben auch illustriert, dass es im Transfer (al)chemischen Wissens keine Schwelle zwischen ‚vormoderner Alchemie‘ und ‚moderner Chemie‘ gibt.

Volkhard Wels ist Professor für Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit an der Freien Universität Berlin. 

Dieser Beitrag erscheint in der Serie Stoffe.