Ist es möglich, den göttlichen Geist aus chemischen Substanzen zu extrahieren? Der frühneuzeitliche Gelehrte Daniel Mögling sagt ja. Er skizziert einen Stationenweg, auf dem sich der Geist Gottes zugunsten mystischer Erfahrungen verfügbar machen lässt.

„Die Erde aber war wüst und leer und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ (Gen 1,2). Jener berühmte zweite Vers des biblischen Schöpfungsberichts gibt eine Reihe von Rätseln auf: Woher kam das besagte „Wasser“, auf dem der Geist Gottes schwebte? Und was wurde aus diesem Geist selbst, nachdem Gott die Welt geschaffen hatte? Tatsächlich gab es in der Frühen Neuzeit eine Art ‚Sekte‘, die von sich behauptete, derlei Fragen letztgültig beantworten zu können; es handelte sich dabei um eine verschworene Gemeinschaft von Alchemisten, die für sich das geistige Erbe des berüchtigten Naturphilosophen Paracelsus reklamierten. Diese Paracelsisten vertraten die Lehrmeinung, dass der Geist Gottes als eine Art ‚intelligent design‘ weiterhin den ganzen Kosmos durchwalte. Doch dabei machten sie keineswegs Halt:

Als versierte Laboranten beanspruchten sie das Vermögen, diesen Geist mithilfe alchemischer Praktiken verfügbar zu machen.

Ein beflissener Theoretiker einer solchen Theo-Alchemie war der Universalgelehrte Daniel Mögling (1596–1635). Mögling war eine äußerst schillernde Gestalt: Er beschäftigte sich mit der Suche nach lebensverlängernden Heilmitteln, erforschte okkulte Schriften magischen Inhalts und baute neuartige Maschinen – darunter auch ein perpetuum mobile. Außerdem war er fest von der Existenz der legendären Bruderschaft der Rosenkreuzer überzeugt. In diesen selbst erblickte er Repräsentanten einer paracelsistisch geprägten Allweisheit, die das Wissen um den natur-immanenten Geist Gottes sowie um die Zeugung des Steins der Weisen beinhaltete. Freilich hatte es von jeher Zweifel an der Existenz des Rosenkreuzerordens gegeben, so auch unter Möglings Studienkollegen, die zu Recht darauf pochten, dass es sich bei dieser Bruderschaft in Wirklichkeit um eine Fiktion des Schriftstellers Johann Valentin Andreae handelte. Andreae hatte in jungen Jahren einen Roman mit dem Titel Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz verfasst und kurz vor dessen Drucklegung im Jahr 1616 zwei Manifeste in Umlauf gebracht, die von der religiösen und wissenspolitischen Programmatik der Rosenkreuzer kündeten. Andreaes Roman wurde zu einem Bestseller, und auch die Rosenkreuzer-Manifeste fanden in der Gelehrtenwelt ein großes Echo. 

Andreae hatte wahrlich den Nerv seiner Zeit getroffen – und bei seinen Zeitgenossen Phantasien einer religiösen, sozialen und institutionellen Neuordnung geweckt.

In der Tat traten schon kurze Zeit nach dem Erscheinen seines Erfolgsromans überzeugte Vorkämpfer einer ‚rosenkreuzerischen‘ Lehre auf, die sich bald als spiritualistisch, bald als politisch und bald als alchemisch behauptete. Unter diesen Vorkämpfern befand sich auch unser Daniel Mögling. Zwar hatte Andreae bereits 1619 eingeräumt, dass man seine Rosenkreuzer-Schriften nicht allzu ernst nehmen dürfe, doch es war schon zu spät: Viele seiner Leser ließen sich ihren Glauben an die wahrhaftige Existenz der geheimen Bruderschaft nicht mehr nehmen. Von Möglings Bekenntnis zu der vermeintlichen Reformbewegung der Rosenkreuzer zeugt unter anderem sein Traktat Speculum sophicum Rhodostauroticum („Spiegel der rosenkreuzerischen Weisheit“). Hierin entfaltet Mögling auf der Grundlage alchemisch-naturphilosophischer Spekulationen eine mystische Lehre, die auf eine innere Erfahrung des göttlichen Geistes und den Erwerb höchster Weisheit zielt.

Das Bild zeigt einen Kupferstich, der in diesem Blogbeitrag genau analysiert und beschrieben wird. Zu sehen sind vier verschiedene Szenen: links unten läuft ein junger Mann durch einen Teich, rechts unten steht ein Mann neben einem Ofen und verschiedenen Geräten, und schmilzt eine Substanz in einer Phiole. In der Mitte oben kniet ein Mann in einem offenen Zelt und verbrennt eine Substanz, sodass Rauch aufsteigt. In der Mitte ist eine geflügelte Frauengestalt auf einer Säule abgebildet, in ihrem Bauch ein Kind. Eine bergige Landschaft verbindet die verschiedenen Bildelemente miteinander.
Abb. 1: Dritte Figur aus Daniel Möglings Speculum sophicum Rhodostauroticum

Einen kompakten Eindruck davon vermittelt eine Radierung aus der Meisterhand Matthäus Merians, die dem Speculum beigegeben ist. Die Darstellung ähnelt einem ‚comic-strip‘: Um die Frauengestalt in der Mitte gruppieren sich drei ‚panels‘, die in einer logischen Abfolge zueinander stehen: Der Blick des Beschauers wird von links nach rechts und zuletzt nach oben gelenkt. In der unteren Hälfte sieht man linkerhand einen jungen Mann bei der Arbeit: Er durchwatet unter freiem Himmel einen Teich auf der Suche nach chemisch zu verarbeitenden Substanzen. Der Waschzuber im Hintergrund ist ein traditionelles alchemisches Symbol. Volkhard Wels: Manifestationen des Geistes. Frömmigkeit, Spiritualismus und Dichtung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2014 (Berliner Mittelalter- u. Frühneuzeitforschung 17), S. 146f. Zusammen mit dem Leintuch steht er hier für eine Reinigung, die nicht so sehr die Materie, sondern vielmehr die menschliche Seele betrifft. Die innere Läuterung des Adepten stellt die erste Stufe des mystischen Dreischritts „Reinigung – Erleuchtung – Vervollkommnung“ dar. Dass diese Läuterung harte körperliche Anstrengungen miteinschließt, macht das aufgeschlagene Buch mit dem Schriftzug „Labore“ („durch Arbeit“) deutlich.

Während der junge Aspirant der Bruderschaft der vita activa verpflichtet ist, darf er sich in fortgeschrittenem Alter der vita contemplativa widmen: Hiervon legt der Ordensbruder auf der gegenüberliegenden Seite Zeugnis ab. Die Durchsichtigkeit seines Ofens gewährt den Blick auf eine Phiole, in der eine stoffliche Substanz zur Schmelzung gebracht wird. Die beiden Darstellungen werden von einer Felsformation überwölbt, auf deren Kamm ein spitz zulaufendes Zelt errichtet ist. Die Zeltplanen sind zurückgeschlagen, sodass ein dritter Rosenkreuzer in den Blick gerät, der vor einer Schale mit rauchendem Inhalt kniend seine Hände gen Himmel streckt: Augenscheinlich durchlebt er eine mystische Erfahrung, die gerade ihren Höhepunkt erreicht.

Doch um wen handelt es sich bei der geflügelten Frauengestalt in der Bildmitte?

Und welche Bedeutung hat das Kind, das sie in ihrem Leibe trägt? Den entscheidenden Hinweis gibt der Schriftzug „hinc sapientia“ („von hier aus die Weisheit“), der in den Sockel eingraviert ist. Es ist demnach die in hermetischen Texten vielbeschworene Jungfrau Sophia, die sich in dieser Figur zu erkennen gibt.

Ausschnitt aus dem obigen Kupferstich, der eine geflügelte Frauengestalt zeigt, in ihrem Bauch ein Kind. Links über ihr die Sonne, rechts über ihr der Mond, jeweils durch eine gerade Linie mit dem Kind in ihrem Bauch verbunden.
Abb. 2: Ausschnitt aus der Radierung: Sophia mit Kind

Auch die Identität des ungeborenen Kindes ist aufgrund seiner Verknüpfung mit den alchemischen Zeichen von Sonne und Mond schnell gelüftet: Es verkörpert den Geist Gottes, der zu aller Anfang auf dem Wasser schwebte. Dieser repräsentiert nach paracelsistischer Lesart des Schöpfungsberichts den spiritus mundi („Weltgeist“). Dieser spiritus ist es auch, von dem die Hermetiker sagen „Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter der Mond; der Wind hat ihn in seinem Bauch getragen.“ Dies besagt der vierte Vers der Tabula smaragdina, deren Urheber traditionell mit dem legendären Naturphilosophen Hermes Trismegistus identifiziert wurde. Selbiger Vers kommt auch im Text selbst zur Sprache (Daniel Mögling: Speculum sophicum Rhodostauroticum. [s.n.] [s.l.] 1618, S. 12): „Pater eius Sol (quod ait Trismegistus) Mater Luna; portavit ventus in ventre suo! Nutrix eius terra est.“ Dass Mögling die Jungfrau Sophia somit indirekt mit dem schwangeren Wind gleichsetzt, ist theologisch unproblematisch. Im alttestamentarischen Liber sapientiae ist nämlich davon die Rede, dass die Weisheit in sich einen Geist – zu Latein spiritus – beherbergt (Weish 7,22). Damit ist das Programm von Möglings Speculum sophicum vollumfänglich umrissen: 

Wer im Besitz der Weisheit ist, der hat auch den Geist, und wer den Geist hat, der hat auch die Weisheit.

Anhand der Einbettung der Jungfrau Sophia in einen hermetischen Kontext wird deutlich, dass deren Geist auf alchemischem Wege erwerbbar ist. Das Betreiben von Alchemie setzt wiederum ein fundiertes naturphilosophisches Wissen voraus. Dieses basiert im Kern auf einer neuplatonischen Schöpfungslehre, welche die Entstehung der Welt im Einklang mit dem Bibelwort auf den spiritus mundi zurückführt. Der Weltgeist ist jedoch nicht nur der kosmische Demiurg, sondern auch ein allumfassendes Lebensprinzip, das in allen Kreaturen – Tieren, Pflanzen und Mineralen – wirksam ist.

Was verrät uns all dies über die Geheimlehre der Rosenkreuzer?

Zunächst einmal offenbart die Bildsprache der Radierung, dass Mögling das Naturwissen jener Bruderschaft mit der paracelsistischen Kosmologie assoziiert. Als besonders aufschlussreich erweist sich in diesem Kontext die Szenerie, die den rosenkreuzerischen Naturforscher umgibt. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Sonne, die im Hintergrund zu sehen ist. Denn diese interpretiert Mögling höchstwahrscheinlich in Anlehnung an die Geistmetaphysik des frühen Paracelsisten Alexander von Suchten (um 1520–1575). Suchten denkt Mensch und Welt in strenger Analogie: Ebenso wie das Herz den Mittelpunkt des menschlichen Organismus bilde, repräsentiere die Sonne – gleichsam als Herz des Kosmos – den Mittelpunkt des Weltalls. Es sei hierbei am Rande bemerkt, dass Suchten mit Nicolaus Copernicus, der erstmals für das heliozentrische Weltbild eintrat, gut bekannt war. Suchten interessiert die Zentralstellung der Sonne allerdings nicht in astronomischem, sondern in naturphilosophischem Zusammenhang: Ebenso wie das Herz der Sitz des menschlichen Geistes sei, habe man den Geist der Welt in der Sonne zu verorten. Von dort aus gieße sich der Weltgeist vermittels der Sonnenstrahlen in die irdische Sphäre ein, um dort überall Leben zu stiften.

Ausschnitt aus dem obigen Kupferstich, der einen jungen Mann zeigt. Dieser watet durch einen Teich, rechts am Ufer liegt ein aufgeschlagenes Buch mit dem Schriftzug „labore“, im Hintergrund zu sehen sind ein Waschzuber, sowie darüber Wolken, aus denen Regen fällt, und hinter denen die Sonne zum Vorschein kommt.
Abb. 3: Ausschnitt aus der Radierung: Aspirant im Teich

Nichts anderes beschreibt die Szenerie im Hintergrund des jungen Naturforschers. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass die geisterfüllten Sonnenstrahlen den Erdboden gar nicht berühren. Vielmehr münden sie in ein dichtes Gewölk, das die Landschaft mit einem Regenguss überzieht. Wie ist dies zu erklären? Folgt man den Ausführungen Suchtens, so ist der Geist zu Beginn seines Weges zur Erde tatsächlich noch – wie ein Sonnenstrahl – von höchst subtiler Natur. Unter der Bezeichnung calor solis („Sonnenhitze“) verkörpere er sogar die Gottnatur Christi. Außerdem – und dies ist im Folgenden von höchster Bedeutung – repräsentiert er den erwähnten Geist der Weisheit, den spiritus sapientiae. Die Weisheit wird im Alten Testament vielfach mit der Erschaffung der Welt in Verbindung gebracht – und auffälligerweise wird ihr hierbei verschiedentlich eine wässrige Gestalt bescheinigt: Im Buch Jesus Sirach heißt es, Gottes Schöpfungswort sei eine „Quelle der Weisheit“ (Sir 1,5). Ferner wird die Weisheit dort mit einem „Nebel“ gleichgesetzt (Sir 24,5–7). Dies deckt sich wiederum mit einer Passage aus dem Liber sapientiae, wo sie als ein „Dampf“ beschrieben wird (Weish 7,25). Paracelsisten wie Suchten deuteten diese Bibelstellen dahingehend, dass der weisheitsaffine spiritus zusehends an Stofflichkeit gewinne, je weiter er sich von Gott entferne. Die dunstige Gestalt, die der göttliche Geist darüber annehme, sei nichts anderes als das „Wasser“, auf dem er zu Beginn der Schöpfung schwebte. Diese Feuchte lässt sich mit Blick auf unsere Radierung leicht mit dem Gewölk identifizieren, in das die Strahlen der Sonne übergehen.

Es regnet Geisttropfen!

Suchten bezeichnet den trüben, vom göttlichen Geist erfüllten Dunst als die quinta essentia. Diese beschreibt er als ein Mittelding zwischen der geistigen und der körperlichen Welt. Als eine Art ‚Geistwasser‘ oszilliert quinta essentia zwischen Geist und Materie. Sie ist, wie Suchten kundtut, „schon so etwas wie ein Körper und gerade keine Seele mehr“ und zugleich „gerade nicht mehr körperlich und schon fast so etwas wie eine Seele.“ Alexander von Suchten: Fusior […] declaratio pro imperitioribus. In: Chymische Schrifften Alle. Frankfurt/M. 1680, S. 466: „quasi jam corpus & quasi jam non Anima, & quasi jam non corpus & quasi jam Anima.“ Diese Sentenz stammt ursprünglich von dem italienischen Humanisten Marsilio Ficino (1433–1499). Tatsächlich kondensiert die neblige Gestalt der quinta essentia, indem sie in die terrestrische Sphäre eintritt, zu einer Flüssigkeit. Hierbei fällt sie, wie die Radierung verdeutlicht, als ein Regen vom Himmel. Es regnet Geisttropfen! Darüber entsteht ein Rinnsal, das in den künstlichen Teich mündet, den der junge Naturforscher durchwatet.

In seinem Traktat De tribus facultatibus bezeichnet Suchten das Kondensat der quinta essentia als ein „Crystrallinisch Wasser“. Diesen Begriff entlehnt er der Johannesapokalypse, in der an mehreren Stellen von einem „kristallinen, gläsernen Meer“ (Offb 4,6) und einem „Fluss des Lebenswassers“ (Offb 22,1) die Rede ist. Dieser Fluss entströme dem Thron Gottes. Allerdings besitzt das kristalline Wasser für Suchten nicht nur eine theologische, sondern auch eine alchemische Dimension. So beschreibt er in seinem Traktat sogar eine Destillation dieser Flüssigkeit. Suchtens diesbezügliche Ausführungen erlauben Rückschlüsse auf die Arbeit des rosenkreuzerischen Naturforschers, der in der unteren Hälfte der Radierung abgebildet ist: Er befindet sich offenkundig auf der Suche nach Eisenvitriol. Der Geowissenschaftler Georg Agricola beschreibt im zwölften Buch seines 1556 erschienen Werks De re metallica gleich vier Methoden zur Gewinnung von Vitriol, von denen eine dem Arbeitsprozess des Naturforschers zu entsprechen scheint: Vitriolhaltiges Wasser soll mit bestimmten Techniken „aus den Schächten herausgezogen“ und in künstliche Teiche überführt werden, damit das Mineral darin „von der Sonnen zusammen wachse.“ (Vom Bergkwerck XII Bücher, 12. Buch. Hieronymus Froben, Basel 1557, S. 473ff.). Hierfür spricht auch, dass dieses Mineral anhand seines Namens, welchen Albertus Magnus von dem neulateinischen Adjektiv „vitreolus“ oder „vitriolus“ (glasartig) herleitet, auf seinen Ursprungsort zurückverweist: auf das kristalline, gläserne Meer der Johannes-Apokalypse.

Im Eisenvitriol glaubten die frühen Paracelsisten – und folglich auch Mögling – ein Behältnis des göttlichen Geistes zu erkennen. Aus ihrer Sicht handelte es sich bei diesem Mineral um eine Miniatur der teils körperlichen, teils geistigen Konstitution des Menschen. Dieser Anschauung lag ein realer chemischer Prozess zugrunde: Eisenvitriol setzt schon bei leichter Erhitzung Wassermoleküle und Eisen[II]sulphat frei. Letzteres, das als ein weißes Pulver zu Tage tritt, interpretiert Suchten als eine ‚Erde‘. Gemeint ist die terra adamica, aus welcher Gott den Menschen schuf. Damit ist die Grundlage für die Extraktion des göttlichen Geistes gegeben, die der Ordensbruder in der oberen Bildhälfte vornimmt: Erhitzt man Eisen[II]sulphat an der Luft auf über 400°C, entweicht ein schwefeloxidhaltiges Gas.

Damit ist der ‚göttliche Geist‘ aus der Materie befreit!

Ausschnitt aus dem obigen Kupferstich, zu sehen ist ein aufgeschlagenes Zelt, in dem ein Mann kniet, die Arme und den Blick zum Himmel erhoben. Vor ihm sind Gefäße zu sehen, aus welchen Rauch aufstiegt.
Abb. 4: Ausschnitt aus der Radierung: Adept im Zelt

Dass der Adept hierbei eine mystische Exaltation erfährt, ist ein Phänomen, das von zahlreichen paracelsistischen Texten beglaubigt wird. Den Hintergrund hierfür bildet einerseits die strenge Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos, andererseits wohl auch die mystische Denkfigur des ‚Zusammenfalls der Gegensätze‘: Im Urgrund des göttlichen Wesens, das sich in Gestalt des Geistes zu erkennen gibt, erscheinen Außen- und Innenwelt als eine unauflösliche Einheit. Das hierauf basierende Konzept einer ‚inneren Alchemie‘ findet sich auch in anderen paracelsistischen Texten. Der Alchemist Heinrich Khunrath etwa bezeugt für die Produktion des Steins der Weisen eine Konvergenz von äußerlich-alchemischer und innerlich-geistiger Perfektionierung:

„Sowie du merkst, dass diese Arbeit verrichtet ist, wirst du eine innerliche Bewegung in dir spüren, und – ach! – du wirst vor Freude weinen! Denn du wirst verstehen und ganz sicher sein können, dass die Erbsünde durch das Feuer der göttlichen Liebe im Akt einer Neugeburt von Körper, Geist und Seele durch Gottes Hand von dir gelöst und abgefallen ist.“ Heinrich Khunrath: Amphitheatrum sapientiae aeternae solius verae. Guilelmus Antonius, Hanau 1609, S. 201f.: „[H]anc factam esse, cum perceperis, motum, in te, experieris internum, et, oh, Gaudio lachrymabis! Quia peccatum originis, igne Diuini amoris, in regeneratione, et corporis, Spiritus et Animae, divinitus auferri et separari, certo intelliges.“

Die Stadien, die der beschriebene Scheideprozess durchläuft, dokumentieren nicht nur die Hierarchie der Hypostasen, an denen die menschliche Kreatur natürlicherweise partizipiert. Sie initiieren zugleich den Prozess einer Neugeburt in Christus, über die der Adept von der Erbsünde befreit wird und eine Vermählung mit der himmlischen Weisheit eingeht. Möglings rosenkreuzerische Alchemie erweist sich vor diesem Hintergrund als eine alchemia mystica: als eine naturnahe, heilige Praxis, die den Menschen in die Lage versetzt, des göttlichen Geistes teilhaftig zu werden.

Simon Brandl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im germanistischen Teilprojekt A06 des SFB 980.

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Stoffe.