Die Atalanta fugiens (1617) gehört zu den berühmtesten Emblembüchern der Frühen Neuzeit. Ihre eindrücklichen und rätselhaften Illustrationen faszinieren bis heute. Bei genauerer Betrachtung bieten diese Darstellungen viele Anhaltspunkte, dass hier in vielfältig spielerischer Weise Wissen verhandelt wird.
Sonne und Mond, allegorisch figuriert als Mann und Frau, stehen in enger Umarmung in einem See. Unterdessen schwebt eine weitere Gestalt, deren Genital in einem alchemischen Gefäß steckt, in einem Gewölk davon, während linkerhand ein Jüngling aus dem Wasser steigt. Überschrieben ist diese merkwürdige Darstellung mit: „Beim Baden wird er empfangen, in der Luft wird er geboren, dann aber wird er, rot von Gestalt, auf dem Wasser gehen.“ Michael Maier: Atalanta fugiens. Frankfurt/M. 1618. Emblema XXXIV, S. 145: „In balneis concipitur, & in aëre nascitur, rubeus vero factus graditur super aquas.“ (Übers. hier sowie im Folgenden vom Beiträger).
Es dürfte kaum verwundern, dass derlei Embleme – von denen Michael Maiers Atalanta fugiens insgesamt fünfzig beinhaltet – aufseiten des Lesers ebenso viel Faszination wie Irritation erzeugen. Welcher Gedanke steht hinter dieser Darstellung? Und was für eine Art von Wissen will sie uns vermitteln? Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die Atalanta fugiens, zu Deutsch ‚Die fliehende Atalante‘ kann als eines der Bücher gelten, die unser Bild von ‚Alchemie‘ – was auch immer man darunter verstehen mag – am nachhaltigsten geprägt haben. Dies ist vor allem das Verdienst der darin abgebildeten Kupferstiche, die wahrscheinlich der Meisterhand Matthäus Merians entstammen. Indes erscheint ihre Berühmtheit in schalem Licht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass diese Embleme sich heutzutage vor allem in Esoterik-Büchern auffinden lassen. Auch in populärwissenschaftlichen Publikationen sind sie äußerst präsent. Demgegenüber blieben die übrigen Anteile der Atalanta, das heißt die Fugen, die Epigramme und die je doppelseitigen Textteile der fünfzig Kapitel, die sogenannten Discursus, weitgehend unbeachtet. Wie sehr die Einschätzung der Illustrationen als ‚esoterisch‘ auf die Deutung des Werks als Ganzes abgefärbt hat, zeigt Kindlers Literaturlexikon, in welchem die Atalanta als „das schönste, merkwürdigste und erfindungsreichste Werk der esoterischen Alchemie des siebzehnten Jahrhunderts“ bezeichnet wird. Friedhelm Kemp: Michel Maier. In: Kindlers neues Literaturlexikon. Bd. 10. Hg. von Walter Jens. München 1990, S. 886.
Eine Art Weltwissen
Doch wie sinnvoll ist es, mit Blick auf die Frühe Neuzeit von einer „esoterischen Alchemie“ zu sprechen? Schließlich zeichnet sich die Esoterik dadurch aus, dass sie alternative, übernatürliche Deutungsmuster gegenüber dem aufgeklärten, wissenschaftlichen Weltbild beansprucht – einem Weltbild also, das um 1600 noch gar nicht bestand. Doch selbst wenn man, wie die ältere Alchemie-Forschung, den Esoterik-Begriff bereits für die Frühe Neuzeit geltend machen wollte: Auf die Atalanta lässt sich dieser gewiss nicht anwenden. Dies zeigt sich allein schon daran, dass Maier, anders als viele seiner Zeitgenossen, nirgends die Existenz okkulter Naturkräfte behauptet. Fernerhin sind seine Ausführungen in den Dicursus vollkommen frei von spiritualistisch-mystischen Tendenzen. Vielmehr richten sie sich an ein interessiertes Publikum, das in (al)chemischen Dingen unkundig ist. Diesem begegnet in der Atalanta ein lebendiges Panoptikum an Naturwundern und Kuriositäten, die sich anhand der ‚Chymia‘ – so lautet Maiers Alchemie-Begriff – ergründen lassen. Die Discursus sind sprachlich gehoben und zeugen von einer humanistischen Bildung und großer Belesenheit. Als überzeugter Aristoteliker, Galenist und versierter Kenner der mittelalterlichen Transmutationsalchemie vermittelt Maier seiner Leserschaft ein Wissen auf den Gebieten von Natur, Medizin, Historiographie, Astronomie und Chemie – eine Art Weltwissen, das mit Witz, Verspieltheit und reich an Impressionen dargeboten wird. Dieses bedient sowohl das Vergnügen als auch das Erkenntnisinteresse, das nach Maiers Worten jedem gottergebenen Menschen innewohnt: „Je näher jemand im diesseitigen Leben seinem göttlichen Wesen kommt, desto mehr Freud und Wonne hat er an den subtilen, wunderbaren und ausgefallenen Dingen, die es intellektuell zu erforschen gilt.“ Michael Maier: Atalanta fugiens. Frankfurt/M. 1617. Praefatio, S. 6: „[…] quò quis magis ad divinam naturam accedit, eò magis rebus intellectu indagandis, subtilibus, miris & raris, gaudet & delectatur.“
Vor dem Hintergrund, dass die Sentenzen, mit denen die Embleme überschrieben sind, die Thematik der darauf folgenden Discursus vorgeben, müssen die Illustrationen jeweils im Kontext des gesamten Kapitels interpretiert werden. So geht etwa aus dem Discursus des eingangs vorgestellten Emblems hervor, dass die Gestalt, die in den Wolken schwebt, für eine luftige Substanz steht, die als ein Vorprodukt des Steins der Weisen in einem alchemischen Gefäß erzeugt wird.
Die Kapitel selbst werden jeweils mit einer dreistimmigen Fuge eröffnet. Im Zusammenhang mit den Fugen ist auch der Titel des Werks zu deuten: Die fuga (zu Deutsch ‚Flucht‘) setzt den Wettlauf der legendären Königstochter Atalante mit ihrem Freier Hippomenes musikalisch in Szene. Letzterer hatte es sich dem Mythos nach zur Aufgabe gemacht, gegen die bis dahin unbesiegte Atalante anzutreten, um diese zur Frau zu gewinnen. Während Atalante die erste Stimme verkörpert und ihr Freier die zweite, steht die dritte Stimme für die goldenen Äpfel, die Hippomenes seiner Auserwählten in den Weg wirft. Nach Maiers Worten gleicht diese letztgenannte Stimme, welche die ersten beiden Stimmen rhythmisch koordiniert, der Jungfrau Chymia, „die wie ein goldener Apfel von lauterer und eigener Qualität ist“. Ebd. Praefatio, S. 9: „[…] tanquam malo aureo: Haec eadem virgo merè Chymica est […].“
Die ästhetisch hochwertigen, da goldenen ‚Äpfel‘ können also mit den kunstvoll aufbereiteten, alchemischen Kuriositäten der Atalanta identifiziert werden. Wenngleich der Atalante-Mythos nur in der Vorrede des Werks zur Sprache kommt und für die Discursus keine Rolle spielt, lässt sich der Titel Atalanta fugiens auch in (al)chemischem Sinne auslegen: Demnach muss Atalante analog zum ‚flüchtigen‘ Quecksilber, das durch einen sogenannten Goldschwefel fixiert wird, mithilfe der goldenen Äpfel zum Stehen gebracht werden.
Auf die Fuge folgt jeweils ein deutsches Epigramm, das die Thematik des Kapitels vorstellt. Die nächste Seite zeigt das Emblem, bestehend aus Motto, Bild und einer lateinischen Version des Epigramms. Die Bilder selbst orientieren sich an der Symbolsprache der althergebrachten Goldmacherkunst – repräsentiert durch Waschzuber, philosophischem Ei, Sonne und Mond, Löwe, Adler, König und Hermaphrodit – oder erweitern diese Symbolsprache um weitere Allegorien, die Maier seiner ‚Chymia‘ zurechnet. Neu ist, verglichen mit den Illustrationen früherer Alchemiebücher, die hohe künstlerische Qualität, durch die sich die Embleme der Atalanta auszeichnen. Ein solcher (al)chemischer Ästhetizismus ist um 1600 kein Einzelphänomen. Dies dürfte auf die etwa zeitgleich einsetzende Systematisierung (al)chemischen Wissens zurückzuführen sein. Den entscheidenden Anstoß hierfür gab der Universalgelehrte Andreas Libavius, der die (Al)Chemie in mehreren Schriften, vor allem aber in seiner Alchemia (1597), erstmals auf ein rein naturwissenschaftliches Fundament stellte. Dies implizierte notwendigerweise die Isolierung der laborantischen Praxis von ihrer rätselhaften Bildlichkeit und ihren teils spiritualistischen Überformungen. Diese Entwicklung tat dem ästhetischen Potential der traditionellen Formen (al)chemischen Wissens jedoch keinen Abbruch und zeichnete einen Scheideweg vor: So lösten sich die bildlichen und sprachlichen Stilelemente der älteren (Al)Chemie zwar mit der Herausbildung eines fortschrittsorientierten Chemie-Verständnisses vom reinen Fachwissen. Doch gerade im Zuge dieser Ablösung entfalteten sie ein Eigenleben, das sich in kunstvollen Schöpfungen wie Emblem, Gedicht, Rätsel oder Musikstück ausdrückte. Als Exempel einer solch poetischen Alchemie kann die Atalanta also – entgegen ihrer Vereinnahmung durch die Esoterik – zugleich als ein Sekundärphänomen eines sich formierenden, wissenschaftlichen Weltbildes gelten.
Auch wenn die Atalanta nun alles andere als ein (Al)Chemie-Lehrbuch ist, beansprucht sie durchaus, Wissen zu vermitteln. In der Vorrede erklärt Maier, dass der menschliche Intellekt über den Gesichtssinn, das Gehör und die Vorstellungskraft geschult werden müsse, denn im Intellekt sei „nichts, was nicht durch irgendeinen Sinnesreiz in ihn eingegangen ist, zumal der Intellekt eines menschlichen Neugeborenen nach allgemeiner Auffassung einer Wachstafel gleicht, auf die noch nichts geschrieben ist, in die sich aber mithilfe eines Sinnesreizes, wie anhand eines Schreibgriffels, etwas eingravieren lässt.“ Ebd. S. 9: „Nihil enim est in intellectu esse dicitur, quod non per sensum aliquem introiverit, cùm hominis recens nati intellectus instar tabuale rasae habeatur, in qua nihil adhuc scriptum, sed quod libet sensu mediante, tanquam stylo, scribi possit […].“ Angesichts der Fülle an Impressionen, die Maier in Form der Fugen, Embleme und Discursus wachruft und orchestriert, erweist sich die Atalanta als ein Spielfeld für die humanistische argutia: einen rhetorischen Habitus, der unter virtuosem Einsatz geistreicher und phantasievoller Stil- und Bildelemente darauf zielt, in tiefere Zusammenhänge – hier in die Geheimnisse der Natur – einzuführen. Vgl. Volker Kapp: Argutia-Bewegung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 991– 993.
Das Wissen, das Maier mit der Atalanta vermittelt, erweist sich dabei als inszeniert. Es ist Gegenstand eines Spiels, das in mehrfacher Hinsicht dem lateinischen Terminus ludus entspricht. Als solches beinhaltet dieses Spiel erstens ein originelles, unbeschwertes Arrangement von Wissen, zweitens – im Sinne des lateinischen Verbs ludere (‚reizen‘)– ein großes Aufgebot an Reizen sinnlicher Natur. Drittens fungiert es, abermals in Übereinstimmung mit dem Bedeutungsspektrum von ludus, als eine Schule, die der menschliche Intellekt durchlaufen muss. Das Pensum dieser Schule darf mit allen Sinnen genossen werden. Dies wird bereits in Maiers Vorrede deutlich: Neben Fugen, Emblemen und chymischen Geheimnissen enthalte sein Buch „Erdachtes, Poetisches und Allegorisches“ (ficta, poëtica, allegorica). Atalanta fugiens. Praefatio, S. 8.
Als ‚erdacht‘ können nicht nur die Fugen und Epigramme der Atalanta gelten, sondern auch das Wissen, das die Discursus vermitteln.
So etwa, wenn Maier davon berichtet, dass der Kaiser Tiberius sich einen Drachen als Haustier gehalten habe. Ferner verbindet Maier (al)chemische Erkenntnisse mit fachfremden Wissensbeständen, darunter die galenische Vier-Säfte-Lehre: Der farbliche Wandel von Weiß auf Rot, den eine chemische Substanz bei der Zeugung des Steins der Weisen phasenweise durchläuft, bedeute eine medizinische Verjüngung, schließlich hätten Greise nach Galen eine ‚weiße‘ und Jünglinge eine ‚rote‘ Hautfarbe. Und so verstehen wir auch das eingangs vorgestellte Emblem besser: Der rote Jüngling, der „[b]eim Baden“ empfangen und „in der Luft“ geboren wird, verkörpert den Stein der Weisen. Die Verbindung von ‚Sonne‘ und ‚Mond‘ steht für eine Schwefel-Quecksilber-Verbindung, die jene luftige Substanz hervorbringt, aus der zuletzt der Stein gezeugt wird.
Ein weiteres Merkmal des spielerischen Umgangs mit Wissen besteht im anekdotischen Erzählen von Kuriosem oder Wundersamem. Dass dieses ‚Wundersame‘ für die Anekdote stilbildend ist, zeigt Matthias Grandl in seiner im Rahmen des SFB 980 entstandenen Studie zur ciceronianischen Anekdote. Nach Grandl nimmt das Kriterium der „Mirabilität“ für die Anekdote „einen definitorischen Rang“ ein, zumal ihre „finale Komik […] auf den vielseitigen Spielarten des (gegenseitigen) Missverstehens“ beruht, das einem „Staunen und Sich-Wundern gleichkommt“. (Vgl. Ciceroniana. Zur anekdotischen Strategie in Ciceros rhetoriktheoretischen und philosophischen Schriften. Episteme in Bewegung, Bd. 27. Wiesbaden 2022, S. 29–31). Man erfährt von Drachen, die in Afrika große Goldschätze bewachen, von jungen Ägypterinnen, die zwischen ihren Brüsten die Eier der Seidenraupe ausbrüten, von Müttern, die dreihundertfünfundsechzig Kinder zur Welt brachten, von Bräuten, die in ihrer Hochzeitsnacht plötzlich zu Männern wurden und von Nachtigallen, die sich im Gesangswettstreit so sehr verausgaben, dass ihnen die Kehle reißt. Den größten Umfang nimmt in den Discursus jedoch die spielerische Deutung von Mythen des klassischen Altertums ein, in denen Maier nichts anderes sieht als Allegorien (al)chemischer Prozesse. Er geht hierbei sogar so weit zu behaupten, der Götterkult der Antike gehe darauf zurück, dass das gemeine Volk die Mythen missverstanden hätte; nur wenige Geistesgrößen hätten um deren alchemische Bedeutung gewusst. Diese ‚Mythoalchemie‘ kommt bereits in früheren Werken Maiers zum Tragen, Zum Begriff ‚Mythoalchemie‘ siehe Joachim Telle: Mythologie und Alchemie. Zum Fortleben der antiken Götter in der frühneuzeitlichen Alchemieliteratur. In: Humanismus und Naturwissenschaften, Bd. 6. Hg. v. R. Schmitz u. F. Krafft. Boppard 1980, S. 135–154. am extremsten in den Arcana arcanissima. Hier wie dort werden Apollo und Diana zu Allegorien von Gold und Silber; Mars verkörpere Eisen, Kronos Blei und Jupiter Zinn. Laborpraxis verberge sich auch hinter der mythischen Erzählung, dass „Achilles und Triptolemus nachts mit glühenden Kohlen bedeckt und tagsüber mit Milch genährt wurden.“ Atalanta fugiens. Discursus XLIV, S. 187: „Achilles & Triptolemus sub carbonibus noctu positi, & interdiu lacte nutrit sunt.“ Selbiges treffe auf die Geburtsmythen von Dionysos und Athene zu, von denen der eine in Jupiters Schenkel heranreifte, die andere dem Kopf des Göttervaters entsprang.
Harsche Kritik übt Maier hingegen an einer wörtlichen Auslegung von Mythen. Diese seien nämlich „mehr als kindisch und nichts als Altweiberphantasien, wenn man sie beim Wort nimmt“; sofern man aber über sie hinausgehe, seien sie „unverkennbare Zeichen von tiefer Gelehrsamkeit.“ Ebd. Discursus XXXIX, S. 166: „Nimis puerilia sunt aniculis digna, si ad literam capiantur, aliàs profundae doctrinae tecmiria & indicia.“
Indes bleibt der Erwerb einer solchen Gelehrsamkeit für den Leser uneingelöst. Das (al)chemische Wissen, das Maier unter Rekurs auf mittelalterliche Adepten präsentiert, erweist sich nämlich als so intransparent, dass es Unkundige ebenso ratlos wie fasziniert zurücklässt. Dass Maier seinen Ausführungen bisweilen bewusst die Aura des Enigmatischen verleiht, entspricht abermals dem spielerischen Charakter der Atalanta: (Al)chemische Geheimnisse werden der neugierigen Leserschaft – ganz im Sinne eines spielerischen Wissens – als Rätsel vermittelt. Tatsächlich lassen sich die meisten dieser Rätsel bis zu einem gewissen Grad durchleuchten, denn oftmals sind es Analogien, über die der Leser an ein Verständnis der stets schemenhaften Inhalte der Laborpraxis herangeführt wird. Gleichviel, ob es sich um die Zeugung von Kindern, das Waschen von Kleidern, die Verdauung von Nahrung, die Herstellung von Töpferware, das Kochen von Fischen oder um die Einkleidung eines Fürsten handelt – stets findet sich eine (al)chemische Prozedur, bei der es sich fast genauso verhält.
Wahrscheinlich beabsichtigt Maier mit der Anwendung solcher und ähnlicher Analogien den Aufweis einer naturimmanenten Eigenlogik, die mithilfe der (Al)Chemie ergründet werden kann. Maiers ‚Chymia‘ versteht sich daher als ein spielerisch vermittelbarer Schlüssel zu einer systematischen Erkundung des Schöpfungswerks. Die Herausforderung des menschlichen Intellekts besteht also nicht im Verständnis der alchemischen Arkansprache, geschweige denn im Erwerb eines praktisch anwendbaren Wissens, sondern in der Erkenntnis, dass die (Al)Chemie – trotz ihrer Intransparenz für Außenstehende – grundsätzlich intelligibel ist, ja sogar einen wissenschaftlichen Wert besitzt, der sie für eine zukunftsträchtige Erforschung der Natur qualifiziert.
Wenn nun die Abbildung des sechsundzwanzigsten Emblems, das sich genau im Zentrum des Werks befindet, die Jungfrau Sophia zeigt, so erscheint diese nicht als eine Advokatin einer ‚esoterisch‘ anmutenden Weisheitslehre. Die Art von Weisheit, die sie repräsentiert, entspricht vielmehr dem wissenschaftlichen (Al)Chemie-Verständnis, das die Atalanta angesichts ihrer zahlreichen Analogien nahelegt: Die Weisheit besteht, wie der ihr zugeordnete Discursus expliziert, „einzig und allein in einer wahrhaftigen Kenntnis der Chymia, verbunden mit einer Praxis, die für die Menschheit über alle Maßen nützlich ist.“ Ebd. Discursus XXVI, S. 114: „Respondendum, sapientiam […] nec quicquam aliud, nisi veram Chymiae cognitionem cum praxi, humano generi utilissima, conjunctam.“
„Ich […] spielte vor ihm allezeit“
Dem spielerischen Charakter der Atalanta tut diese Definition von Weisheit keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Weisheit bezeichnet sich in ihrem Monolog im biblischen Buch der Sprichwörter ausdrücklich als eine Spielende (8,27– 30): „Als [Gott] den Himmel baute, war ich dabei, / als er den Erdkreis abmaß über den Wassern […] / da war ich sein geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag / und spielte vor ihm allezeit.“
Es ist wohl dieses kosmische Spiel der (al)chemischen Weisheit, das Maier in der Atalanta inszeniert; und dem Leser ist vergönnt, daran teilzuhaben. Das Spiel der Weisheit ist, wie mehrfach deutlich wurde, pädagogisch wertvoll. In ihm manifestiert sich ein Wissen, das sich in den poetischen Formen von Fuge, Epigramm und Emblem sowie auch in den literarisch anspruchsvollen Discursus äußert; dortselbst vermittelt über Anekdoten, Mythoalchemie, Allegorien, Rätsel und eine originelle Verflechtung von verschiedensten Wissensbeständen und Theorien. Auf diese Weise schärft es den menschlichen Intellekt für ein wissenschaftliches (Al)Chemie-Verständnis, dem jegliche esoterische Färbung fremd ist.
Simon Brandl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im germanistischen Teilprojekt A06 des SFB 980 Episteme in Bewegung.
Dieser Beitrag erscheint in der Serie Spielerisches Wissen.