Der kranke Gralkönig in Wolframs von Eschenbach Parzival leidet: Eine vergiftete Lanze hat ihn in die Genitalien getroffen und die Wunde will einfach nicht verheilen. Warum sollte da ausgerechnet Pelikanblut helfen können?
Als der junge Ritter Parzival im gleichnamigen Versroman (entstanden 1200–1210) erstmals auf die Burg Munsalvæsche gelangt, wird er Zeuge der rätselhaften Zeremonie um den ebenso mysteriösen Gral, aber auch der Leiden des schwerkranken Gralkönigs Anfortas. Vgl. zu Parzivals erstem Besuch auf der Gralburg z. B. Eming, Jutta: Aus den swarzen buochen. Zur Ästhetik der Verrätselung von Erkenntnis und Wissenstransfer im Parzival. In: Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Peter-André Alt et al. Wiesbaden 2015 (Episteme in Bewegung 2), S. 75–99.Der König ist in einem Zustand andauernden Schmerzes gefangen und dem Tod näher als dem Leben:
ez was worden wette
zwischen im und der vröude:
er lebte niht wan töude.
Die beiden waren fertig miteinander: er [der Gralkönig] und das Glück. Sein Leben war nur mehr ein Sterben. Text und Übersetzung hier und im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Mhd. Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text von Bernd Schirok. Berlin, New York 2003, hier 230,18–20. Verweise erfolgen im Weiteren im Fließtext.
Dass Parzival den König mit einer Frage nach seinem Leiden (der sogenannten ‚Mitleidsfrage‘) hätte erlösen können, erfährt er erst im Nachhinein, als er die Burg schon wieder verlassen hat. Was es mit dem leidenden Gralkönig aber genau auf sich hat, bleibt nicht nur für den Helden, sondern auch für das Publikum zunächst unbeantwortet.
Die Erzählung einer fatalen Verwundung
Wie es zu dem Leiden kam, erfährt Parzival erst viele Verse später von dem Einsiedler Trevrizent, den er bei seinem Versuch, zur Gralburg zurückzukehren, zufällig trifft und der einst ebenfalls dort gelebt hat. Diesen Teil der Erzählung hat der Autor Wolfram von Eschenbach gegenüber seiner französischen Vorlage von Chrétien de Troyes am stärksten aus- und umgestaltet. Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, hier S. 93f.
Neben religiösen Lehrreden und der Aufklärung von Verwandtschaftsverhältnissen – bei Wolfram ist Anfortas der Onkel Parzivals – kann Trevrizent auch retrospektiv davon erzählen, was Anfortas widerfahren ist. Er sei in einem ritterlichen Zweikampf schwer verwundet worden:
mit einem gelupten sper
wart er ze tjostieren wunt,
sô daz er nimmer mêr gesunt
wart, der süeze œheim dîn,
durch die heidruose sîn. (479,8–12)
Mit einem vergifteten Speer wurde er beim Tjostieren [Lanzenstechen, Anm. AK] verwundet, so daß er niemals wieder gesund werden konnte, dein lieber Oheim: das Eisen fuhr ihm durch den Hoden.
Als Anfortas wieder auf der Gralburg ankommt, ist der jâmer (479,30) groß, und das nicht nur bei ihm, sondern auch bei allen anderen: Es wird geklagt (480,19), geweint (480,24), man empfindet herzeleit (481,28) und leidet mit dem König mit (daz tet uns mit dem künege wê, 483,5). Die ganze Gralgesellschaft wird durch die Verwundung des Königs in eine tiefe Krise gestürzt.
Anfortas wird vor den Gral getragen, in der Hoffnung, Gott würde ihm helfen (480,25f.). Der Gral verhindert zwar zu seinem Leidwesen, dass er stirbt – sein Tod würde nämlich zu einem dynastischen Problem führen, da die Nachfolge des Gralkönigtums nicht gesichert ist –, er sorgt aber dezidiert auch nicht für seine Genesung (480,27–481,4).
Was nun?
Die Gralgesellschaft unternimmt in der Folge eigene Heilungsversuche. Sie beschafft die verschiedensten Dinge als potentielle Heilmittel für den Gralkönig (481,5–483,18): Antidote gegen Schlangengifte, Wasser aus den Paradiesflüssen, den Zweig der Sibylle, das Blut des Pelikans, das Herz und den Karfunkel des Einhorns, sowie das Kraut trachontê, das nur dort wächst, wo ein Drache erschlagen wurde.
Alle diese Remedien sind erstaunlich und wären es wert, wissensgeschichtlich weiter verfolgt zu werden. Am meisten überrascht uns als moderne Leser*innen aber vielleicht der Pelikan in dieser Aufzählung „spektakuläre[r] Wundermittel[]“, Nellmann, Eberhard: Stellenkommentar. In: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von dems. Übertragen von Dieter Kühn. Bd. 2. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 2022 [2006], S. 443–790, hier S. 688.weil es sich um ein aus der Natur vertrautes Tier handelt.
Wieso sollte ausgerechnet sein Blut heilende Eigenschaften haben?
Ich möchte dem Pelikanblut in diesem Beitrag exemplarisch genauer nachgehen und zeigen, inwiefern Wolfram hier ein bereits langfristig tradiertes naturkundlich-christliches Wissen in die Erzählung einspeist – und es dabei zugleich verändert.
Der Pelikan im Mittelalter: Symbol für den Opfertod Jesu Christi
Der Pelikan ist mit seinem stark dehnbaren Hautsack am Unterschnabel ein Vogel mit hohem Wiedererkennungswert. Er ist bereits im Alten Ägypten bekannt und taucht auch in antiken Enzyklopädien auf, z. B. in Aelians De natura animalium (Vom Wesen der Tiere, 3. Jh. n. Chr.). Vgl. Rosen, Judith: [Art.] Pelikan. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Hg. von Georg Schöllgen et al. Bd. 27. Stuttgart 2016, Sp. 26–32, hier Sp. 27f.Dem westlich-christlichen Mittelalter ist der Pelikan aber insbesondere aus der Tradition des Physiologus bekannt: einem anonym überlieferten, naturkundlich-christlichen Werk (entstanden um 150–200 n. Chr.), das Tiere, Pflanzen und Steine symbolisch-allegorisch auf das Heilsgeschehen bezieht und so christliche Lehren vermittelt. Vgl. Schneider, Horst: Einführung in den Physiologus. In: Christus in natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus. Hg. von Zbyněk Kindschi Garský. Berlin, Boston 2019, S. 5–13.
Daran schließen in der Spätantike die Kirchenväter an. Insbesondere Augustinus prägt die im Mittelalter populäre Vorstellung vom ‚Buch der Natur‘: Die Natur sei neben der Heiligen Schrift eine zweite Offenbarung und weise auf Gott zurück. Naturkundliche Beobachtungen werden daher entschieden mit einem exegetischen Interesse verknüpft. Vgl. zur Bedeutung der Naturkunde für die spätantiken Kirchenväter Heyden, Katharina: Liber creaturae und sacra scriptura. Zur Bedeutung der Naturkunde für die Bibelexegese der lateinischen Kirchenväter. In: Christus in natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus. Hg. von Zbyněk Kindschi Garský. Berlin, Boston 2019, S. 159–173.Diese mit dem Physiologus verbundene Vorstellung von Natur ist für das christliche Mittelalter zentral. Die Popularität des Textes schlägt sich in seiner äußerst breiten, kaum überschaubaren Überlieferung nieder: Er wird in alle wichtigen Sprachen übersetzt, dabei stetig verändert, erweitert sowie gekürzt, und fließt auch in andere naturkundliche Werke ein, z. B. Isidors von Sevilla Etymologiae (7. Jh. n. Chr.) oder viel später in Konrads von Megenberg Buch der Natur (entstanden ca. 1350, siehe Titelbild). Der Physiologus ist von Beginn an ein Gebrauchstext; man kann ihn sich „fast als eine Art antikes Wikipedia“ Ebd., S. 159.vorstellen.
Im Mittelalter gibt es auch (vereinzelte) Versuche, ihn aus dem Lateinischen in die deutsche Volkssprache zu übertragen, z. B. den Millstätter Physiologus, der um 1200 entstanden ist Er geht auf eine Dicta-Fassung des Physiologus zurück, der im Mittelalter erfolgreichsten lateinischen Prosafassung, und ist nur in einer einzigen Sammelhandschrift überliefert. Die geringe Überlieferungsdichte der deutschsprachigen Physiologi spricht gegen ihre breite Wirkung; literarische Anspielungen sind eher auf den lateinischen Quellenbereich sowie enzyklopädische Werke zurückzuführen. Vgl. Henkel, Nikolaus et al.: [Art.] Physiologus. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. Hg. von Norbert Angermann et al. München 1993, Sp. 2117–2122, hier Sp. 2119f.– also etwa zur selben Zeit wie Wolframs Parzival. Im Millstätter Physiologus wird erzählt, dass der Pelikan seine Jungen sehr liebe (vil harte minne, 137,3). Hier und im Folgenden zitiert nach: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Christian Schröder. Würzburg 2005, S. 124f.Er reiße sich die Brust bzw. die Seite auf, um mit seinem Blut die toten Jungen wieder zu Leben zu erwecken:
An dem dritten tage so brichet diu muotir ir siten mit grozzir chlage.
Daz bluot laet si louffen an der stunt ubir die jungen, sa werdent si gesunt. (139,1–2)
Am dritten Tag reißt sich die Mutter mit großem Jammer die Flanke auf. Das Blut läßt sie gleich über die Jungen fließen. Sofort werden [s]ie wieder lebendig.
Diese Erzählung, die als naturkundliche Gegebenheit präsentiert wird, mag uns seltsam vorkommen. Sie rührt womöglich daher, dass der Pelikan seine Jungen aus dem Hautsack am Schnabel füttert und die Nahrung dabei sozusagen ‚ausspeit‘, was so aussieht, als schlage er sich an die Brust. Vgl. Kraus, Thomas J.: Von Einhorn, Hirsch, Pelikan und anderem Getier. Septuaginta, Physiologus und darüber hinaus. In: Christus in natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus. Hg. von Zbyněk Kindschi Garský. Berlin, Boston 2019, S. 63–82, hier S. 75.Der Wahrheitsgehalt der Erzählung ist aber gar nicht der entscheidende Punkt. Wichtiger ist die christliche Exegese: Die Aufopferung des Pelikans wird auf den Opfertod Jesu Christi bezogen, durch den die Menschheit erlöst wurde.
Do warde er durch uns gemartirot, unde mit dem heiligem bluot,
daz von siner siten wart geleitet, da mit wurden wir erchuchet unde geheilet. (143,1–2)
Da wurde er [Jesus] unseretwegen gemartert, und von seinem heiligen Blut, das an seiner Seite herabfloß, wurden wir lebendig gemacht und geheilt.
Dank dieser Auslegung wird der Pelikan im Mittelalter zu einem ungemein beliebten christlichen Symbol.
Er ist über einen langen Zeitraum fester Bestandteil der christlichen Ikonographie: Ab dem 10. Jahrhundert findet man ihn, meist mit drei Jungtieren im Nest sitzend und sich die Brust aufreißend, in geistlichen Kontexten, als Bauschmuck von Kirchen und auf Kircheninventar, Vgl. Rosen: [Art.] Pelikan, Sp. 31. Zum Pelikan in der Bildenden Kunst insbesondere Gerhardt, Christoph: Die Metamorphosen des Pelikans. Exempel und Auslegung in mittelalterlicher Literatur. Mit Beispielen aus der bildenden Kunst und einem Bildanhang. Frankfurt a. M. 1979.zunehmend aber auch in weltlichen Kontexten, so beispielsweise auf Prunkgeschirr, wie es dann in der Frühen Neuzeit in Kunst- und Wunderkammern ausgestellt wird. Daran ist auch gut zu erkennen, wie verflochten die Traditionsstränge der Naturgeschichte, Theologie wie auch Kunst in der Vormoderne sind.
Wissenstransfer: Vom Physiologus zum Parzival
Wenn der Pelikan nun im Parzival auftaucht, handelt es sich dabei also nicht einfach um einen beliebigen Vogel; und auch, dass es gerade sein Blut ist, das dem Gralkönig helfen soll, ist kein Zufall.
Wolfram transferiert gezielt ein bereits tradiertes Narrativ in den erzählerischen Kontext und ruft damit ein spezifisches Wissen der zeitgenössischen Rezipient*innen auf, modifiziert es aber zugleich:
ein vogel heizt pellicânus:
swenne der fruht gewinnet,
alze sêre er die minnet:
in twinget sîner triwe gelust
daz er bîzet durch sîn selbes brust,
unt lætz bluot den jungen in den munt:
er stirbet an der selben stunt.
do gewunnen wir des vogels bluot,
ob uns sîn triwe wære guot,
unt strichens an die wunden
sô wir beste kunden. (482,12–22)
Es gibt einen Vogel, der heißt pellicânus. Wenn der Junge hat, die liebt er über alles; er ist so treu, daß ihn die Liebe zu den Seinen treibt, sich selber in die Brust zu beißen, und er verströmt sein Blut den Jungen in den Mund: und daran stirbt er dann. Das Blut des Vogels haben wir uns verschafft — vielleicht, daß seine Treue uns hilft —, und wir strichen es an die Wunde, so gut wir es nur verstanden.
In den ersten sieben Versen gibt Trevrizent die naturkundliche Erzählung noch einmal für Parzival sowie das Publikum wieder. Sie ist wohl auf den Physiologus zurückzuführen, Vgl. Nellmann: Stellenkommentar, S. 689f.; Schröder (Hg.): Millstätter Physiologus, S. 305.auch wenn unklar bleiben muss, ob Wolfram eine spezifische Physiologus-Fassung vorlag, oder er das Narrativ nur schriftlich oder mündlich vermittelt kannte.
Im Vergleich mit der ursprünglichen Fassung ist jedenfalls eine mittelalterliche Bearbeitung der Erzählung erkennbar: Hier stirbt das Pelikan-Elternteil sogleich, opfert sich also für seine Jungen auf. Christoph Gerhardt sieht den Ursprung dieser Ergänzung in einer ‚Leerstelle‘ der Erzählung begründet, die besonders zum Auffüllen einlade: „[W]as geschieht mit dem alten Pelikan nach seinem Selbstopfer bzw. was entspricht in dem Naturbericht Christi Auferstehung?“ Gerhardt: Die Metamorphosen des Pelikans, S. 21. Gerade die epistemische Leerstelle regt also zur weiteren Ausgestaltung an.
Vielleicht noch auffälliger ist die Umgestaltung eines wesentlichen Details: Heißt es im Physiologus nur, der Pelikan lasse sein Blut über die Jungen ‚fließen‘ (louffen, im Sinne eines Besprenkelns bzw. Befeuchtens), so geht daraus im Laufe des Mittelalters – vielleicht unterstützt durch die ikonographische Darstellung – eine Erzählvariante hervor, in der die Jungen das Blut trinken (ähnlich, wie in der Eucharistie das Blut Christi getrunken wird). Vgl. ebd., Abschnitt „10. Umdeutungen des Selbstopfers: a) Pelicanus sanguine lactans“, S. 30–35.Aus Daz bluot laet si louffen an der stunt ubir die jungen im Millstätter Physiologus (139,2) wird damit unt lætz bluot den jungen in den munt / er stirbet an der selben stunt im Parzival (482,17–18). Auf die Parallele in der Formulierung weist bereits Schröder in seinem Kommentar hin, vgl. Schröder (Hg.): Millstätter Physiologus, S. 307.Das Publikum wird den Pelikan jedenfalls, schon allein aufgrund seiner weit verbreiteten ikonographischen Darstellung, zweifellos als Symbol für Christus identifizieren haben können. Gerhardt sieht Wolframs Beschreibung sogar als Beleg für eine vorwiegend bildliche Vermittlung der Erzählung, so gleiche „de[r] hier entscheidende[] Vers 17 einer Bildbeschreibung, der Verschriftlichung einer ikonographischen Vorlage“, Gerhardt: Die Metamorphosen des Pelikans, S. 32.
Bezeichnenderweise folgt nach der (naturkundlichen) Erzählung aber keine christliche Auslegung, wie dies vom Publikum – gerade von Trevrizent, der für Parzival die Rolle eines religiösen Lehrers einnimmt – zu erwarten wäre, sondern der Versuch der Anwendung dieses Wissens:
Die Verwendung von Pelikanblut als Arzneimittel ist sonst nirgends überliefert und in dieser Hinsicht bei Wolfram einzigartig. Vgl. ebd., S. 96, Anmerkung 159.
Man kann dies als originelle Verknüpfung Wolframs verstehen – vielleicht angeregt durch die medizinisch anmutende Terminologie im Physiologus (die Jungen werden durch das Blut wieder gesunt, 139,2, und die Menschen durch das Blut Christi geheilet, 143,2). Vgl. Groos, Arthur: The Enchanted Body. Treating the Fisher King. In: Romancing the Grail. Genre, Science and Quest in Wolfram’s Parzival. Hg. von dems. Ithaca, London 1995. S. 144–169, hier S. 153.Als verbindendes Motiv zwischen Pelikan und Gralgesellschaft wird jedenfalls die triwe (Treue) betont: So, wie der Pelikan treu gegenüber seinen Jungen sei, ist die Gralgesellschaft treu gegenüber ihrem König. Daraus entspringt die Hoffnung bzw. die Hypothese (markiert mit einer ob-Formulierung), das Blut des Pelikans könne vielleicht auch dem verwundeten Anfortas helfen. Es handelt sich wortwörtlich um einen Heilungsversuch.
Es wird beschrieben, dass dieses Blut herangeschafft (gewunnen) wird. Damit könnte auch ein geographisches Wissen über den Lebensraum des Pelikans impliziert sein, den man im Mittelalter als in Ägypten beheimatet denkt. So ist der Pelikan beispielsweise auch auf der um 1300 entstandenen Ebstorfer Weltkarte am Oberlauf des Nils zu finden (siehe Abb. 4). Um das Blut zu gewinnen, müsste also jemand dorthin reisen, einen Pelikan töten und dessen Blut auffangen, und es zurück zum Gralkönig bringen – oder aber ein Pelikan wird gefangen und noch lebendig zum König gebracht, um das noch frische Blut an die Wunde zu streichen…? All das bleibt der Imagination der Rezipient*innen überlassen.
Was dagegen konkret beschrieben wird, ist die Applikation des Heilmittels: Das Bestreichen der Wunde (strichens an die wunden) erinnert an den Gebrauch tatsächlich tradierter Arzneien und scheint die medizinische Praxis nachzuahmen. Es handelt sich demnach um ein spezifisch handlungsbezogenes, quasi-medizinisches ‚Know-How‘, Vgl. Gilbert Ryle: Knowing How and Knowing That. The Presidential Address. In: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1945/46), S. 1–16.das im (Gebrauchs-)Kontext der Heilungsversuche des Gralkönigs mit dem Wissen über Pelikanblut verbunden und in der Erzählung geradezu experimentell Vgl. Groos: The Enchanted Body, S. 147.erprobt wird.
Aber: Es hilft nichts
Die Passage schließt mit den Worten: daz moht uns niht gehelfen sus („Das konnte uns so auch nicht helfen“, 482,23). Doch warum eigentlich nicht? Warum scheitert der Heilungsversuch – und auch alle anderen?
Einen ersten Hinweis bietet ein Kommentar, den Trevrizent – bezeichnenderweise schon nach dem ersten erzählten Heilungsversuch – abgibt:
(lâ dir die rede kürzen)
der keinz gehelfen kunde:
got selbe uns des verbunde. (481,16–18)
[I]ch kann es dir auch kürzer sagen, also: keins von alledem hat helfen können, Gott selber will es uns nicht gönnen.
Damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen: Die Heilung des Gralkönigs scheint nicht dem göttlichen Willen zu entsprechen. Aber warum nicht? Um das zu verstehen, muss die Vorgeschichte von Anfortas’ Verwundung noch einmal kurz aufgerollt werden: Sie wird von Trevrizent mit dem Motiv der hôchvart (Hochmut, lat. superbia) eingeleitet (472,25f.). Die superbia ist eine der sieben ‚Todsünden‘, die z. B. auch mit dem Sündenfall in Verbindung gebracht wird.
Anfortas habe schon früh die Nachfolge seines Vaters als Gralkönig angetreten. Dann aber habe ihm die minne (Liebe) zugesetzt und er habe sich eine Geliebte (friundîn, 478,18) gewählt, der er Minnedienst leisten wollte. Dem Gralkönig wird seine Ehefrau aber durch den Gral qua Inschrift vorgeschrieben. Indem Anfortas sich selbst eine Frau wählt, verstößt er gegen die Gesetze des Grals und macht sich damit gegenüber dem Gral bzw. Gott schuldig. Man kann seine Verwundung daher als Strafe für die begangene Sünde bzw. die Überschreitung des Gralgebots lesen. Vgl. Schrodt, Richard: Anfortas’ Leiden. In: Festgabe für Otto Höfler zum 75. Geburtstag. Hg. von Helmut Birkhan. Wien, Stuttgart 1976, S. 589–626, hier S. 594; Haage, Bernhard Dietrich: Studien zur Heilkunde im Parzival Wolframs von Eschenbach. Göppingen 1992, hier S. 89 und 147f.; zuletzt Groos: The Enchanted Body, S. 144f.
Besonders greifbar wird das in einer Eigenaussage Anfortas’, wenn er Parzival erzählt, daz mich got / ame lîbe hât geletzet („[dass] Gott mich lahm machte am Leben“, 239,26f.). Dahinter steht die mittelalterliche Vorstellung von Krankheit als Strafe Gottes. Vgl. Nellmann: Stellenkommentar, S. 584; ebenfalls Haage: Studien zur Heilkunde, S. 145–147.Auch die zeichenhafte Korrespondenz zwischen dem sündhaften Verhalten (sexueller Begierde) und dem verwundeten Körperteil (Genitalien) spricht dafür. Vgl. Schmid, Elisabeth: Wundheilung im Parzival. Gawan, Anfortas und die Heilkraft der Kräuter. In: Heil und Heilung. Die Kultur der Selbstsorge in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Tobias Bulang und Regina Toepfer. Heidelberg 2020. S. 147–169, hier S. 162; sowie Schrodt: Anfortas’ Leiden, S. 601.Anfortas’ Wunde ist demnach keine nur körperliche: Sie ist auch Zeichen seiner Verfehlung.
Dass sämtliche Heilungsversuche scheitern, spricht für die besondere Schwere und die Strafnatur von Anfortas’ Wunde; und für die „die Sinnlosigkeit menschlicher Therapie gegen Gottes Ratschluß [sic]“. Haage: Studien zur Heilkunde, S. 148. Vgl. auch Schmid: Wundheilung im Parzival, S. 162.Man könnte auch sagen:
Alles Weltwissen, das man auch haben kann, wird nichtig gegenüber göttlicher Verfügung.
Zurück zum Pelikan: Fehlt da nicht was?
Was bei den Heilungsversuchen schiefläuft, lässt sich auch beispielhaft am Pelikan zeigen. Eine wesentliche Dimension wird im Parzival nämlich ausgelassen: die christlich-allegorische Ausdeutung. Das wird dem mittelalterlichen Publikum aufgefallen sein, ist der Pelikan doch ausgehend von Physiologus als Symbol für den Opfertod Christi so konventionalisiert und populär geworden, Vgl. dazu Scheidel, Fabian David: Schönheitsdiskurse in der Literatur des Mittelalters. Die Propädeutik des Fleisches zwischen ‚aisthesis‘ und Ästhetik. Berlin, Boston 2022 (Diss. 2020), hier S. 597.dass diese Sinndimension wohl durch bloße Nennung des Pelikans in Erinnerung gerufen wird.
Es ließe sich mit Blick auf die nur partielle Übernahme des Wissens vom Pelikan in die Erzählung von einem ‚negativen Transfer‘ sprechen, also einem Wissenstransfer, der von „Dynamiken der Negation“ geprägt ist. Vgl. Dadaş, Şirin und Vogel, Christian: Dynamiken der Negation. Perspektiven für die Beschreibung und Analyse von Wissenswandel. In: (Nicht)Wissen und negativer Transfer in vormodernen Kulturen. Hg. von dens. Wiesbaden 2021 (Episteme in Bewegung 20), S. 3–24, hier S. 4.Denn: Wissen verschwindet auch im Zuge seiner Negation nicht einfach. Es bleibt auch dann präsent, wenn es nicht explizit genannt wird (genauso, wie Anfortas’ Wunde für das mittelalterliche Publikum auch dann als göttliche Strafe erkennbar ist, wenn das nicht explizit ausformuliert wird). Im Gegenteil, durch den Bruch mit der Erwartungshaltung drängt sich die Bezugnahme vielleicht sogar umso mehr auf.
Letztlich wird die Pelikan-Erzählung damit, zumindest vordergründig, um ihre zentrale Sinndimension verkürzt, nämlich die heilsgeschichtliche. Vgl. Scheidel: Schönheitsdiskurse, S. 597f. Die Zeichenhaftigkeit des Pelikans wird ausgeblendet und damit die Tatsache, dass der Pelikan – ebenso wie Anfortas’ Wunde, denn hier schließt sich der Kreis – nur wieder auf Gott und das Heilsgeschehen zurückverweist. Den göttlichen Willen mit Heilmitteln aus der Natur zu ‚umgehen‘, Vgl. Groos: The Enchanted Body, S. 148.muss allein schon deshalb scheitern, weil Natur für die christliche Vormoderne vor allem die Schöpfung Gottes ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Mit dem Blut des Pelikans wird ein spezifisches, naturkundlich-christlich tradiertes Wissen neu in den erzählerischen Kontext des Parzival eingearbeitet.
Im Zuge dieses Transfers verändert sich das Wissen, es wird konsequenterweise bearbeitet, angepasst, z. T. ausgeblendet, aber auch ergänzt und neu kombiniert.
Sicherlich spricht das für die umfassende Bildung Wolframs. Vgl. Haage: Studien zur Heilkunde, passim, etwa S. 42.Darüber hinaus wird aber auch ein eigenständiger, innovativer Umgang mit dem tradierten Wissen sichtbar, der letztlich zu einer neuen, spezifisch literarischen Konfiguration desselben führt.
Alina Karsten ist germanistische Mediävistin und arbeitet als studentische Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 980 Episteme in Bewegung.