Erleben wir in den aktuellen politischen Debatten einen neuen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“? Darauf deutet vor allem der Wille hin, die öffentliche Sphäre durch technische ‚Problemlösungen‘ auszuhöhlen. Angesichts dessen lohnt ein Blick auf die spezifische Option des 18. Jahrhunderts für die Öffentlichkeit.

„Sind Technokraten die besseren Politiker?“, fragte die FAZ vielsagend in einem Leitartikel vom 13. Februar 2021 anlässlich der Ernennung Mario Draghis zum Kopf einer Expertenregierung in Italien. Philipp von Wussows neues Buch zeigt sich unter dem neuralgischen Titel „Expertokratie“ hingegen skeptisch, wie demokratisch der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Politik vonstatten gehen kann. Und in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 27. Oktober 2023 bemerkt Jürgen Trittin mit Blick auf die konfliktreiche Entscheidungsaushandlung in der Bundesregierung, dass diese „manche mit einem sehr starken technokratischen Politikverständnis“ erschrecke.

Ohne diese Einschätzungen überzubewerten, muss man festhalten, dass sie im breiteren Bild des aktuellen Zeitgeschehens eine symptomatische Frage aufwerfen. In den gegenwärtigen Debatten zu Stellenwert und Rolle der öffentlichen Sphäre zeichnet sich eine auffällige Verschiebung, in mancher Hinsicht vielleicht sogar ein erneuter „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ab. Aktuell geht es jedoch nicht, wie von Jürgen Habermas in den 1960er Jahren so einflussreich konstatiert, um eine Unterordnung des öffentlichen Raums unter ökonomische Privatinteressen, sondern noch Grundsätzlicheres scheint auf dem Spiel zu stehen.

Die unerwartete Re-Politisierung des gesellschaftlichen Diskurses, die nicht zuletzt dem Aufkommen populistischer Bewegungen in ganz Europa geschuldet ist und die auch vor Fragen wie der Impfung gegen Covid 19 nicht haltmachte, hat das Vertrauen in etablierte Debatten- und Konsensfindungsmechanismen bis in ihre Grundlagen erschüttert. Die erstaunliche Renaissance der politischen Lüge, die Reklamierung ‚alternativer Fakten‘ und die massive Kritik an den gesellschaftlichen Funktionseliten stellen insbesondere die Fähigkeit der öffentlichen Sphäre in Frage, in der unbeschränkten Diskussion aller Meinungen, Standpunkte und Überzeugungen zu wahren oder zumindest gesicherten und allgemeinverbindlichen Aussagen zu gelangen.  

Eine bezeichnende Reaktion hierauf ist die Forderung der attackierten „liberalen Eliten“ nach technischen Problemlösungen, besonders auf der Basis von wissenschaftlicher oder durch spezielle Autorität ausgezeichneter Erkenntnis. Dies zeigt sich zum einen in dem Ruf nach Expertenkabinetten, der in Italien die Regierung Draghi an die Macht brachte, auf die, ebenso bestürzend wie wenig überraschend, die populistische Antwort in Form der Koalition unter Giorgia Meloni folgte. Dabei haben wir es freilich nur mit zwei Seiten des gleichen Strukturphänomens zu tun. Denn der populistische Rekurs auf das ‚Volk‘ ist ebenfalls vom Willen getragen, die öffentliche Sphäre strukturell zu umgehen, hier unter Rekurs auf das autoritäre Konstrukt der scheinbar schweigenden Mehrheit der Bevölkerung. 

Andererseits meldet sich das Unbehagen an der Öffentlichkeit auch in den aktuellen Erklärungen zahlreicher Politiker, der Debatte um den Klimaschutz müsse durch die technologischen Mittel der „Dekarbonisierung“ ein gleichsam objektiver Ausweg aus den ideologischen Auseinandersetzungen gewiesen werden. Symptomatisch ist diese Reaktion insofern, als sie der öffentlichen Sphäre die Austragung und Lösung solcher Konflikte offenbar nicht mehr zutraut und gerade abseits ihrer auf unwiderlegbare Expertise und wissenschaftliche Evidenz setzt.

Die durchaus erhellende Evidenz, welche die historischen Kulturwissenschaften und speziell die Wissensgeschichte hierzu zu geben haben, ist der Einblick in die Entstehung der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert und ihre konzeptionelle Begründung.

Die Bezugnahme auf die souveräne, vielstimmige Urteilsinstanz des „espace publique“ war ein Schlüsselmotiv der Aufklärungsbewegungen in ganz Europa und für die weitere Entwicklung moderner Gesellschaften prägend.

Es lohnt daher, den Blick zurück ins 18. Jahrhundert zu lenken und dabei nicht nur auf die großen Denker wie Voltaire und Kant zu achten, sondern abseits der intellektuellen Eliten die breitere Mentalitätsgeschichte der Epoche zurate zu ziehen.  

Die beste Möglichkeit hierzu bietet die Quellengattung der akademischen Preisfragen in Frankreich, die im 18. Jahrhundert zu großer Beliebtheit und enormer Verbreitung gelangten. Nun mag man meinen, dass ein auf Publizität angelegtes Medium wie der „concours académique“ – die Wettbewerbe wurden über die periodische Presse ausgeschrieben und die gekürten Manuskripte im Druck herausgegeben – sozusagen ein natürliches Vorurteil für die neue Öffentlichkeitssphäre hatte. Die geschichtliche Entwicklung der Gattung seit ihrer Etablierung an der Académie française im Jahr 1670 trägt aber eine andere Handschrift.

Nicht nur wurden die Preisschriften lange Zeit nach dem traditionellen rhetorischen Ideal der Mündlichkeit verfasst, sie dienten auch der Bestätigung althergebrachter theologischer und moralphilosophischer Thesen. Erst ab den 1720er Jahren setzte ein allmählicher Wandel ein, der die virulenten Themen der Zeit in den Fokus rückte, darunter die Entwicklung der Sitten, die neuen Formen der Wissensproduktion und eben die Rolle der Öffentlichkeit. Die berühmte, von Rousseau gewonnene Preisfrage der Académie de Dijon von 1750 nach dem Beitrag von Wissenschaften und Künsten zur moralischen Läuterung ist hierfür nur ein besonders prominentes Beispiel.

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Abb. 1: Manuskript der gekürten Schrift n°3 von Durey d’Harnoncourt zur Preisfrage der Académie de Besançon von 1756.

Die Beschäftigung mit der öffentlichen Sphäre zeitigte ihre markantesten Resultate bei der Ausschreibung der Académie de Besançon von 1756. Zur Diskussion stand, „warum das Urteil der Öffentlichkeit gewöhnlich frei von Irrtum und Ungerechtigkeit ist“ („Pourquoi le jugement du public est-il ordinairement exempt d’erreur et d’injustice?“). Die gekürte Schrift aus der Feder eines gewissen Durey d’Harnoncourt führt ebenso grundsätzliche wie scharf profilierte Argumente für das „jugement du public“ ins Feld. Richtungweisend geht der bis dato unbekannte Autor davon aus, dass die Öffentlichkeit in ihrer Entscheidungsmacht „souverän“ und „universell“ ist, mithin keiner anderen Gewalt, auch nicht dem monarchischen Staat, Rechenschaft zu geben hat. Bibliothèque municipale de Besançon, Fonds de l’Académie, prix, dossier 17, fol. 184–198, hier fol. 192v (weitere Quellenbelege im Fließtext in Klammern; Übersetzungen durch den Verfasser M.U.). An der Öffentlichkeit führt für d’Harnoncourt kein Weg vorbei, auch nicht der Bezug auf vermeintlich höhere Wertmaßstäbe. Ihre Sprüche sind „unwiderruflich“ (184v).

Zwei entscheidende Aspekte sprechen demnach für die Verlässlichkeit des öffentlichen Urteils: Es ist dem Wissen der Einzelpersonen („particuliers“) in der schieren Menge, aber auch der Substanz der Erkenntnisse strukturell überlegen. Darüber hinaus erachtet es der Autor als freier und unparteilicher („moins intéressé“), weil in der Vielzahl der Perspektiven von keinem spezifischen Interesse geleitet (184v–185r). Dieser ebenso klare wie kühne Akzent auf die Verschiedenheit der Meinungen und Positionen, die am Grunde des öffentlichen Urteils und seines Formierungsprozesses liegen, ist entscheidend. Für d’Harnoncourt steht fest: „Verschiedenheit, sogar Gegensätzlichkeit, macht die Entscheidungen noch unfehlbarer, denn sie gibt Anlass zu ernsthafterer und reiflicherer Prüfung“ (188r).

Das Urteil der Öffentlichkeit stellt folglich weder die bloße Summe der einzelnen Standpunkte noch deren Angleichung an einen vorgefertigten Rationalitätsstandard dar. Es ist im wahrsten Sinne das „glückliche Resultat aller einander angenäherten, mit einander kombinierten Einzelideen, die sich gegenseitig korrigieren“ (188v). Auch die gesteigerte Freiheit und Unabhängigkeit der öffentlichen Entscheidungsfindung wird wesentlich mit deren pluraler Verfassung in Verbindung gebracht. Denn gerade in ihrer Vielstimmigkeit, so das machtpragmatische Argument des Autors, ist die Öffentlichkeit unangreifbar. An der ihr eigenen Anonymität prallt der Zugriff der Autokraten ab. Ihre Stärke speist sich, praktisch wie theoretisch, aus der Fülle ihrer Elemente.

Diese Eigenschaft gewährt dem öffentlichen Raum einen entscheidenden Vorsprung an Einsicht und rationaler Urteilskraft. Eine „Schule der Vernunft“ (197v) ist die Öffentlichkeit nun aber nicht per se, sondern weil sie in der Vielzahl der einander korrigierenden Standpunkte zur unparteilichen Sicht besonders befähigt ist. So bietet diese Instanz für den Autor die besten Voraussetzungen, die vernünftige Entscheidungsfindung ungetrübt von dominanten Einzelinteressen oder verzerrenden Stimmungen und Gefühlslagen zu befördern. Denn natürlich weiß auch Durey d’Harnoncourt um die Gefahr „spontan aufkommender Meinungen und plötzlicher Gerüchte“ (184v).

Die gekürte Preisschrift von 1756 bringt somit zentrale Argumente vor, die im Aufklärungsdiskurs über den Status des „espace public“ von Marmontel über Malesherbes bis zu Kant – freilich mit ganz anderer konzeptioneller Stringenz und grundsätzlicherem Deutungsanspruch – entfaltet wurden. Nicht jedoch das evidente intellektuelle Gefälle, sondern die Verbreitung der einschlägigen Ideen in der vor allem von interessierten Laien bespielten Preisfragengattung – und die Kür dieser Thesen durch die Akademie sind bemerkenswert. Hinzu kommt, dass die Schlüsselargumente der Preisschrift sich der Sache nach auch in mehreren der 16 weiteren eingereichten Manuskripte finden. D’Harnoncourts Positionen zu dieser Frage waren durchaus keine Einzelerscheinung.

Bemerkenswert ist ferner, dass sich die Parteinahme für das öffentliche Urteil in den Preisfragen der französischen Akademien in ihrem Herausbildungsprozess beobachten lässt. So thematisierte die Académie des Jeux Floraux in Toulouse die öffentliche Sphäre schon über zwanzig Jahre früher, aber mit signifikant anderer Stoßrichtung: „Man soll das öffentliche Urteil respektieren, aber nicht von ihm abhängig sein“. Dennoch bezieht die – zwar nicht gekürte, aber von der Akademie in ihren Jahrbüchern veröffentlichte – Eingabe in ihrem ersten Teil für die Öffentlichkeit mit durchaus vergleichbaren Argumenten wie später d’Harnoncourt Stellung. „Discours sur ces paroles: Il faut respecter le Jugement du Public, mais il ne faut pas en dépendre“, in: Recueil de plusieurs pièces de poésie et d’éloquence, présentées à l’Académie des Jeux Floraux, les années 1734 et 1735, Toulouse 1735, S. 80–94. Allerdings werden diese Positionen in einem auffälligen logischen Bruch abschließend wieder zurückgenommen. Dies wirkt wie ein Zugeständnis an die ausgewiesene Erwartungshaltung jener Akademie, die in ganz Frankreich für ihre besondere Pflege der rhetorischen Tradition bekannt war. Die Option für die Öffentlichkeit ist aber schon in diesem Wettbewerb deutlich auf den Weg gebracht.

Trotz des ausdrücklichen Bekenntnisses zur öffentlichen Sphäre herrscht in den Preisfragen keine Überschätzung der Rationalität dieses Diskursraums.

Die entsprechenden Reserven in den Eingaben von 1756 sind nicht nur dem wissensgeschichtlich hybriden Status der Preisfragengattung geschuldet, in der sich traditionelle und neue Argumentationsformen zu überlagern pflegten. Sie zeugen von einem pragmatischen Wissen um die Grenzen der vernunftorientierten Kommunikation und der faktischen Macht der Zivilgesellschaft. Ebenso waren die Protagonisten der französischen Aufklärung entgegen der landläufigen Forschungsmeinung theoretisch wie praktisch auch Skeptiker der Öffentlichkeit, frequentierten geschlossene Gesellschaften, schrieben für nicht zur Publikation bestimmte Periodika mit exklusiv fürstlicher Leserschaft und hielten sich bewusst Kanäle abseits der öffentlichen Sphäre zur Durchsetzung ihrer Interessen offen, auch geheime.

Dennoch blieb für den aufklärerischen Diskurs die Öffentlichkeit der elementare Prüfstein für die Gültigkeit valider und sozial verbindlicher Aussagen sowie für die Legitimität politischen Handelns. Wurde sie bisweilen praktisch auch gemieden, ging es nie darum, sie dauerhaft oder kategorisch zu unterlaufen. Der einsetzende Wandel der Öffentlichkeitsstruktur, der sich in den gegenwärtigen Bestrebungen dahingehend andeutet, dass der gesellschaftliche Aushandlungsdiskurs technisch und szientifisch schrittweise unterhöhlt zu werden droht, wirft neues Licht auf die Option des 18. Jahrhunderts für das „jugement du public“. Und, durch den zeitlichen Wandel hindurch, auf die anhaltende Aktualität dieses historisch späten und unwahrscheinlichen Wagnisses.

Martin Urmann ist Romanist und arbeitet als Post-Doc am SFB 980 Episteme in Bewegung.