Eine Schnitzeljagd durch Handschriften auf der Suche nach einem Schlafmittel: Was empfahlen Ärzte des Mittelalters? Hilft Meerrettich am Abend, oder doch eher Salat? Und was hat deren Verwechslung mit dem Pessach-Abendessen zu tun?

Schlechter Schlaf während Corona? Studien zeigen: Während der Corona-Pandemie schlafen viele Menschen schlechter. So berichtet ein Schlafforscher bspw. der Tagesschau, zuletzt aufgerufen am 04.11.2021. Ich kann das nur bestätigen. Liegt es an der Sorge um das Wohlergehen meiner Freunde und Familie? Oder an der mangelnden Produktivität angesichts nicht vorhandener Systemrelevanz meiner philologischen Forschungen? Sicher ist: Es fängt schon wieder an zu dämmern und Schlaf will sich bei mir noch nicht einstellen.

Schon mittelalterliche Mediziner befassten sich mit der Frage, welche Mittel und Wege den Menschen zu einem besseren und gesünderen Schlaf verhelfen könnten. Auch der muslimische Sultan, den der berühmte jüdische Philosoph und Arzt Maimonides im 12. Jahrhundert beriet, schlief wohl gelegentlich schlecht. Maimonides hat daher auch einige Sultan-taugliche Empfehlungen zur Hand: Man solle sich von sanftem Saitenspiel einlullen lassen. Vgl. Hans H. Lauer: „Schlafdiätetik im Mittelalter“, in: Somnologie 2 (1998), S. 151–162, hier S. 159–160. Muss man sich natürlich erst mal leisten können, so einen abendlichen Lautenspieler… leider bin ich kein Sultan und kann nur Blockflöte spielen – das scheint mir also eine Sackgasse zu sein. 

Gegen Schlafprobleme könne es helfen, wenn jemand ruhig mit einem spreche. 

Sein nestorianischer Vorgänger Ibn Buṭlān (11. Jh.) hatte da eine etwas alltagstauglichere Empfehlung: Gegen Schlafprobleme könne es helfen, wenn jemand ruhig mit einem spreche. A.a.O. S. 159. Hat man diese Erfahrung nicht auch schon mal gemacht, schön gemütlich auf dem Sofa wegdämmern, während sich ein paar Freunde noch unterhalten… hallo!? schon mal was von Kontaktbeschränkungen gehört? Bis wir wieder in gemütlicher Runde wegdösen können, werden wohl noch ein paar Monate vergehen. Und wenn ich mich endlich wieder mit meinen Freunden in einem Raum aufhalten kann, wird mir sicher nicht nach Schlaf zumute sein! Also auch nicht besonders hilfreich. Was tun bis dahin?

Ich konsultiere noch eine dritte mittelalterliche Schrift: Gershon ben Solomon, ein jüdischer Philosoph aus dem 13. Jahrhundert, empfiehlt zum Glück weder für Normalsterbliche unerschwingliche noch corona-unverträgliche Maßnahmen, sondern ein Kraut. Das klingt doch umsetzbar! Und was soll es sein? Die Übersetzung sagt: Meerrettich! Ich gebe „Meerrettich – Schlafmittel“ bei Google ein, und werde erst mal nicht fündig. Gegen Blasenentzündung soll es aber helfen. Hat Gershon sich geirrt? Ging das Kräuterwissen verloren? Oder ist da bei der Übersetzung etwas schiefgelaufen? Ich streiche mir einen Löffel Meerrettich aufs Brot und die Schärfe belebt mich eher. Na, dann kann ich die nächtliche Aktivität auch gleich nutzen, um herauszufinden, was es mit diesem Schlafmittel auf sich hat… 

Zuerst einmal schaue ich in den hebräischen Text. Dort steht: חזרת – ḥaseret sei ein Schlafmittel. Ḥaseret, das bedeutet modernhebräisch eindeutig Meerrettich. Weil aber Gershon als sogenannter ‚Kompilator‘ fast keine Theorie selbst aufgestellt, sondern vor allem aus den Schriften anderer Philosophen und Ärzte zusammengesucht hat, kann ich seine Quelle ausfindig machen. Seine Theorien zum Schlaf hat er von Ibn Rushd übernommen. 

Ibn Rushd, auch bekannt unter seinem lateinischen Namen Averroes, arabischer Philosoph, Jurist und Arzt, schrieb im 12. Jahrhundert ein Buch über die Medizin: Kitāb al-Kulliyyāt fī l-ṭibb. Dem Schlaf widmete er dabei ein eigenes Kapitel im Abschnitt über die Erhaltung der Gesundheit – auch damals war also bekannt, wie wichtig Schlaf für die Gesundheit und das Wohlbefinden eines Menschen ist. Schon klar – aber was hilft denn nun gegen Schlafmangel? 

Die Stelle, die Gershon zitiert, ist bei Ibn Rushd schnell gefunden. Doch das Mittel ist nicht dasselbe: Die Nahrung, die den Schlaf herbeiführe, sei: الخس – al-ḫass. Ich traue meinen Augen nicht ganz und schlage im Wörterbuch nach. Doch, da steht es: خس: Lattich, Gartensalat (lactuca sativa). Hans Wehr: Arabisches Wörterbuch, 5. Auflage, Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, Eintrag ḫass S. 335. Salat? Nicht Meerrettich? Was ist da schiefgelaufen? Ich mache mich auf die Suche nach den hebräischen Übersetzungen des Kulliyyāt und habe noch mal Glück: Von beiden Übersetzungen ist je eine Handschrift digitalisiert. Die eine übersetzt: חסה – ḥassah – Salat. Die andere: חזרת – ḥaseret. Daher kommt also der Meerrettich – aber wie kam das Missverständnis zustande?

Maror, das Bitterkraut, repräsentiert die Bitterkeit der Sklaverei in Ägypten.

Spontan fällt mir eine Verbindung von Salat und Meerrettich in der jüdischen Tradition ein: Zum jüdischen Fest Pessach, das an den Auszug der Juden aus Ägypten erinnert, werden auf dem sogenannten Seder-Teller Speisen angerichtet, die an verschiedene Momente des Exodus gemahnen. Maror, das Bitterkraut, repräsentiert die Bitterkeit der Sklaverei in Ägypten. Dafür wird oft Salat zusammen mit Meerrettich serviert. Ob diese Verbindung der beiden Speisen etwas mit Gershons Verwechslung zu tun hat?

Im Talmud-Traktat Psachin, in dem die Pessach-Tradition festgelegt wird, werde ich fündig: מאי חזרת – חסא, bPsaḥin 39a, zitiert nach Sefaria schreiben die Rabbinen auf aramäisch: „Was ist ḥaseret? Ḥassaʾ!“. Zur Zeit der Rabbinen bedeutete ḥaseret also nicht Meerrettich, sondern dasselbe wie ḥassa: Salat. Weil es kein Wörterbuch des mittelalterlichen Hebräisch gibt, bin ich nun etwas in der Klemme: Bei den Rabbinen im 6. Jahrhundert bedeutete ḥaseret Salat, heute heißt es Meerrettich; aber wann fand der Sprachwandel statt? Hätte Gershon ben Solomon mir im 13. Jahrhundert gegen meine Schlaflosigkeit nun Meerrettich oder Salat empfohlen?

Meerrettich als Schlafmittel ist bloß ein modernes Missverständnis.

Zum Glück hat das richtige Essen zu Pessach auch die Gelehrten zu Gershons Zeit beschäftigt, und in ihren Kommentaren zum Bitterkraut auf dem Seder-Teller werde ich fündig: Der oben bereits erwähnte Maimonides meint, das hebräische ḥaseret entspreche dem arabischen ḫass, sei also Salat, und Raschi, der berühmte aschkenasische Religionsgelehrte (11. Jh.), präzisiert, es sei ליטוגא – letuga, also wohl auch Lattich, Salat. Beide Angaben aus Zohar Amar: חמשת מיני מרור על פי שיטת הרמב״ם [ = Die fünf Arten von Bitterkraut im System des Maimonides, heb.], in: Ha-Ma˓yan 48/3 (2008), S. 108–116, hier S. 110. Die Darstellungen des bitteren Krauts in der Pessach-Haggadah, die zum Pessach-Fest gelesen wird, zeigen auch ziemlich eindeutig einen Salat (siehe Titelbild). Somit hat Gershon bei ḥaseret vermutlich an Salat gedacht. Und Meerrettich als Schlafmittel ist bloß ein modernes Missverständnis – kein Wunder, dass er mich noch wacher gemacht hat! Nächstes Mal werde ich zum Salat greifen. 

Tage später bestätigt mir übrigens mein Kollege Dr. Sean Coughlin aus der Medizingeschichte: „Schon in der Antike galt der Salat als Schlafmittel. Der griechische Arzt Galen erzählt sogar selbst, dass er in fortgeschrittenem Alter manchmal abends nicht einschlafen konnte, und ihm dann nur Salat half“. Abschnitt 2.40 (lettuce) in Galen: De alimentorum facultatibus. Ed. in: O. Powell: On the Properties of Foodstuffs, Cambridge: Cambridge University Press, 2003, 6.626 K: „when I reached middle age this vegetable alone was the cure for my insomnia – since my concern about sleeping was the opposite to when I was young. […] [W]hen against my will I was unable to sleep I became distressed, and the only antidote to insomnia was, for me, a lettuce eaten in the evening“. Leider gilt diese Wirkung heute als nicht belegbar. Einen Versuch ist es aber vielleicht doch wert? Wem der Salat nicht hilft, dem kann ich übrigens eine philologische Schnitzeljagd durch die Handschriftensammlungen empfehlen. Am Ende bin ich dann nämlich über den Wörterbüchern doch noch eingeschlafen.

Hanna Zoe Trauer ist Judaistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 980.