Altenglische Listengedichte stellen eine merkwürdig anmutende Textgattung dar, in der verschiedene Inhalte scheinbar willkürlich aneinandergereiht sind. Wird hier ein Wissen in Listenform transportiert oder geht es eher um ein Wissen „im Vollzug“, um die Mechanismen der Wissensvermittlung selbst?

Wie Eltern von Grundschulkindern nur zu gut wissen, werden die jeweiligen Vorzüge oder Nachteile unterschiedlicher Lehr- und Lernmethoden nicht nur von Fachleuten, sondern auch unter Eltern oft emotional und kontrovers diskutiert. Die Bedeutung verschiedener pädagogischer Ansätze wurde im Zuge der Corona-Pandemie in ganz besonderer Weise erfahrbar, als Maßnahmen wie geteilte Klassen, Homeschooling und Online-Unterricht Eltern und Pädagogen vor ganz neue Herausforderungen stellten. Wenn uns diese Diskussionen eines lehren, dann jenes, dass Wissen auf ganz unterschiedliche Weise weitergegeben und gelernt werden kann.

Eine in Antike und Mittelalter beliebte Form der Wissensvermittlung waren Listen, die gelesen und abgeschrieben, auswendiggelernt und verinnerlicht werden konnten. In der altenglischen Dichtung – also der Dichtung, die im frühmittelalterlichen Britannien des 7. bis 11. Jahrhunderts in einer Vorstufe der heutigen englischen Sprache verfasst wurde – gibt es eine Reihe von Texten, die sich genau in diese Tradition zu stellen scheinen, dabei aber über das Format der reinen Liste hinausgehen. Für heutige Leser·innen muten diese Dichtungen allerdings merkwürdig an, denn sie reihen scheinbar willkürlich unterschiedliche Beobachtungen, Lebensweisheiten oder die Namen von Herrschern und Volksgruppen aneinander. So heißt es beispielsweise in der im späten 10. Jahrhundert niedergeschriebenen Dichtung Widsith:

Widsith, 20–21

Casere weold Creacum   ond Cælic Finnum,
Hagena Holmrygum   ond Heoden Glommum.

Der Kaiser herrscht über die Griechen und Cælic über die Finnen,
Hagen über die Rugier und Heoden über die Lemovier.

Aufgrund ihres Inhalts und ihrer formalen Beschaffenheit werden diese Texte von der modernen Forschung gern als „Weisheits-“ bzw. „Wissensdichtung“ oder einfach nur als Listengedichte („catalogue poems“) bezeichnet. Es ist nicht bekannt, ob und in welcher Form die so bezeichneten Texte historisch verwendet wurden. Sie finden sich verstreut in unterschiedlichen Handschriften, zwischen Heiligenleben, Texten religiöser Besinnung, Heldendichtung und Rätseln. Um greifbar zu machen, auf welche Weise sie Wissen weiterzugeben versuchen und um was für eine Form von Wissen es sich dabei überhaupt handelt, muss daher von den Texten selbst ausgegangen werden.

Dass es den Dichtungen um die Vermittlung von Wissen geht, stellen zumindest einige von ihnen explizit heraus.

Denn dass es ihnen um die Vermittlung von Wissen geht, stellen zumindest einige der Dichtungen explizit heraus. So beginnt etwa das von der modernen Forschung als Maxims I bezeichnete Gedicht mit den Worten:

Maxims I, 1–4a

Frige mec frodum wordum!   Ne læt þinne ferð onhælne,
degol þæt þu deopost cunne!   Nelle ic þe min dyrne gesecgan,
gif þu me þinne hygecræft hylest   ond þine heortan geþohtas.
Gleawe men sceolon gieddum wrixlan.

Befrage mich mit weisen Worten. Halte deinen Geist nicht verborgen,
nicht geheim jenes, was du am tiefsten verstehst. Ich will dir mein Geheimnis nicht verraten,
wenn du mir deinen Geist verwehrst und die Gedanken deines Herzens.
Kluge Menschen sollen weise Worte wechseln.

Historische Manuskriptseite. Der Anfang der Dichtung "Maxim I" im Exeter Book.
Abb. 1: Der Anfang der Dichtung Maxim I im Exeter Book

Dieser Einleitung folgt dann über rund 200 Zeilen eine Vielzahl unterschiedlicher Beobachtungen und Lebensweisheiten, die zumeist eher alltäglicher Natur sind und bisweilen ans Banale grenzen:

Maxims I, 71–74a

Forst sceal freosan,   fyr wudu meltan,
eorþe growan,   is brycgian,
wæter helm wegan,   wundrum lucan
eorþan ciþas.

Frost muss gefrieren, Feuer Holz verzehren,
die Erde aufkeimen, Eis Brücken bauen,
Wasser eine Decke tragen, auf wunderliche Weise
die Saat der Erde verschließen.

Das in dieser Form aufgereihte Wissen – man könnte hier vielleicht von „Erfahrungswissen“ sprechen – ist in Maxims I mit Hilfe von Stabreimen aneinandergereiht, d.h. der Text folgt den Regeln altgermanischer Metrik, indem jeweils zwei Halbzeilen durch Alliteration (gleicher Wortanlaut) zu einer Langzeile verbunden werden. Dabei weist die erste Halbzeile (der Anvers) üblicherweise zwei alliterierende Silben, die zweite (der Abvers) nur eine auf: „Forst sceal freosan   fyr wudu meltan“. Die metrischen Regeln stellen nicht nur eine Form der Strukturierung dar, sondern vereinfachen das Auswendiglernen. Auch heute bekannte Sprichwörter bleiben häufig durch ihre Verwendung von Reim im Gedächtnis: „Morgenstund hat Gold im Mund“ oder „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ (letztgenanntes besitzt zwar keinen Endreim, ähnelt durch die dreifache Alliteration aber sogar der altgermanischen Langzeile).

Dennoch stellt sich die Frage, warum das Gedicht überhaupt Allgemeinplätze wie

Maxims I, 129–130

Scyld sceal cempan,   sceaft reafere,
sceal bryde beag,   bec leornere

der Schild gehört zum Kämpfer, der Pfeil zum Räuber,
der Ring zur Braut, Bücher zum Lernenden

sowie weitere Sprichwörter, Weisheiten und Alltäglichkeiten auf insgesamt 205 Langzeilen aneinanderreiht – zumal sich in Maxims I und den anderen altenglischen Listengedichten nur sehr bedingt interne Strukturprinzipien erkennen lassen. Das soll nicht heißen, dass die einzelnen Gedichte kein übergreifendes Thema hätten. Das von den modernen Herausgebern als The Gifts of Men (oder Godʼs Gifts to Humankind) betitelte Gedicht listet beispielsweise die verschiedenen Gaben bzw. Talente und Fertigkeiten auf, die Gott unter den Menschen verteilt habe; The Fortunes of Men reiht verschiedene Möglichkeiten aneinander, das Zeitliche zu segnen – manchmal durchaus mit humoristischen Einlagen angereichert:

The Fortunes of Men, 15–26

Sumne sceal hungor ahiþan;   sumne sceal hreoh fordrifan,
sumne sceal gar agetan,   sumne guð abreotan
[…]
Sum sceal on holte   of hean beame
fiþerleas feallan;   bið on flihte seþeah,
laceð on lyfte,   oþþæt lengre ne bið
westem wudubeames.   Þonne he on wyrtruman
sigeð sworcenferð,   sawle bireafod,
fealleþ on foldan,   feorð biþ on siþe.
 
Einen wird der Hunger zerstören, einen der Sturm hinforttreiben,
einen wird der Speer vernichten, einen die Schlacht töten
[…]
der eine wird im Wald vom hohen Baum
federlos fallen, und fliegt dennoch,
tummelt sich in der Luft, bis er nicht länger
eine Frucht des Waldbaums ist; wenn er tot
zu den Wurzeln sinkt, der Seele beraubt,
fällt er auf den Grund, (und) die Seele ist auf dem Weg.

Insgesamt aber erscheint die Anordnung der Elemente – in diesem Fall der verschiedenen Todesarten – weitgehend willkürlich; eine Verknüpfung geschieht in erster Linie über die gleichen Anlaute der alliterierenden Wörter. Auch humoristisch anmutende Einschübe wie der unfreiwillige Sturzflug aus dem Baumwipfel sind sicher nicht als Hauptzweck der Dichtung zu erachten.

Der Forschung ist es bislang nicht gelungen, eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Zweck der altenglischen Listendichtung zu geben. Vielleicht kann es eine solche auch gar nicht geben. Trotzdem, so scheint es mir, vermitteln die Texte einen Eindruck davon, wie sich vormoderne literarische Texte mit den formalen Möglichkeiten von Wissensvermittlung auseinandersetzten.

Indem altenglische Listendichtungen einen fiktionalen Rahmen schaffen, in dem Wissen in Form von Listen transportiert wird, stellen sie ihre Inhalte quasi als „Wissen im Vollzug“ aus.

Indem altenglische Listendichtungen einen impliziten oder sogar expliziten fiktionalen Rahmen schaffen, in dem Wissen in Form von Listen transportiert wird, stellen sie ihre Inhalte quasi als „Wissen im Vollzug“ aus. Bevor ich diese These eingehender erörtere, möchte ich zunächst einen vergleichenden Blick auf andere vormoderne Traditionen von Listenwissen werfen, die möglicherweise dabei helfen können, Texte wie Maxims I besser zu verstehen.

Listen als Formen der Wissensvermittlung

Listen stellen die früheste Form der Verschriftung von Wissensbeständen dar – ein Aspekt, dem sich insbesondere das Projekt A01 des SFB 980 eingehend widmet. Sie erscheinen zuerst um 3300 v. Chr. in Südmesopotamien, wo sich die Keilschrift in Verwaltungskontexten aus vorschriftlichen Verwaltungshilfen wie Zählmarken (sogenannten „tokens“), gesiegelten Tonbullen und Rollsiegeln entwickelte. So gesehen diente die Schrift also zunächst vor allem dem Auflisten von Gütern und Gegenständen: Wie viele Schafe, Rinder oder andere Güter waren vorhanden? Während etwa 90 % der ältesten Texte solche Dokumente der Wirtschaftsverwaltung darstellen, sind etwa 10 % sogenannte lexikalische Listen. Diese ältesten keilschriftlichen Listen stellten das Zeichenrepertoire nach semantischen Kriterien zusammen und bildeten so die Grundlage der Schreiberausbildung. Eva Cancik-Kirschbaum und Jochem Kahl: Erste Philologien. Archäologie einer Disziplin vom Tigris bis zum Nil. Unter Mitarbeit von Klaus Wagensonner. Tübingen 2018, S. 37–40 (mit weiterführender Literatur). Ich danke meinem Kollegen Ingo Schrakamp für den Literaturhinweis.

Tontafel aus der Museumsausstellung im Louvre. Sumerisch-akkadische lexikalische Liste, frühes 2. Jahrtausend v. Chr.
Abb. 2: Sumerisch-akkadische lexikalische Liste, frühes 2. Jahrtausend v. Chr., Louvre

In beiden Kontexten – der Wirtschaftsverwaltung und der Schreiberausbildung – ist das Prinzip „Liste“ klar erkennbar: Es handelt sich um Aneinanderreihungen verschiedener Begriffe oder Themenbereiche, die aufgrund ähnlicher Merkmale, Eigenschaften oder Gebrauchskontexte zusammengefasst werden. Dieses Prinzip der durchdachten Aneinanderreihung stellt auch einen wesentlichen Aspekt mündlichen Vortragens im Sinne der antiken Rhetorik dar. So ist etwa das assoziative Verknüpfen verschiedener Elemente zu Begriffsketten eine wichtige Methode beim Auffinden von Argumenten (inventio), ihrer Bewertung und Zurechtlegung (iudicio), sowie beim Abrufen der zurechtgelegten Argumente aus dem Gedächtnis (memoria). Die Methode der assoziativen Verkettung – also der Aneinanderreihung von Begriffen oder Argumenten, die im Gedächtnis mit einander verknüpft sind – spielt darüber hinaus in der antiken und mittelalterlichen Gedächtniskunst (Mnemonik) eine wichtige Rolle: Seneca der Ältere behauptete, er könne zweitausend Namen nach einmaligem Hören wiederholen, indem er sie in seinem Gedächtnis mit bestimmten Orten (loci) verknüpfte, die er dann im Geiste der Reihe nach aufsuchte. Richard Sorabji: Aristotle on Memory. Providence, Rhode Island 1972, S. 22.

Die BBC-Serie Sherlock spielt in der Folge „The Hounds of Baskerville“ direkt auf diese Methode an, als Sherlock Holmes Watson und die Labormitarbeiterin Dr. Stapleton des Raums verweist mit den Worten: „Get out, I need to visit my mind palace.“ (In der deutschen Synchronisation: „Raus hier, ich gehe jetzt in meinen Gedächtnispalast.“).

Das Auffinden und Bewerten von Argumenten spielte eine wichtige Rolle in der antiken und mittelalterlichen „Topik“, wie sie etwa von Cicero, vom anonymen Auctor ad Herennium oder von Boethius gelehrt wurde: die Methode, plausible Argumente systematisch anzuordnen und bereitzustellen. Die Topik wiederum eröffnete vielfältige Möglichkeiten der Strukturierung von Inhalten auf der Grundlage von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, wodurch sie sich als Strukturierungsprinzip für antike und mittelalterliche Enzyklopädien wie etwa Plinius‘ Naturalis historia, Cassiodors Institutiones divinarum et humanarum lectionum oder Isidor von Sevillas Originum seu Etymologiarum libri XX eignete, in denen Wissen versammelt und aufbereitet wurde. Die altenglischen Listengedichte stellen natürlich keine enzyklopädischen Sammlungen im eigentlichen Sinne dar. Soweit sich erkennen lässt, erheben sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit und die Anordnung der Inhalte innerhalb der Dichtungen ist meist lose, im besten Falle assoziativ. (Um ein Beispiel einer solchen assoziativen Verknüpfung zu geben: Die bereits zitierten Zeilen aus 71–74a aus Maxims I weisen alle einen Winterbezug auf: „Frost muss gefrieren, Feuer Holz verzehren, / die Erde aufkeimen, Eis Brücken bauen, / Wasser eine Decke tragen, auf wunderliche Weise / die Saat der Erde verschließen.“) Dennoch versammeln auch sie thematisch oder formal mit einander verbundene Inhalte: Spruch- und Alltagsweisheiten (u.a. Maxims I), Gottes Gaben an die Menschen (The Gifts of Men), unterschiedliche Arten zu sterben (The Fortunes of Men), Herrscher und Volksgruppen (Widsith), um nur einige Beispiele zu nennen.

Das poetisch-formale Mittel der Alliteration bietet eine ähnliche Merkhilfe wie die typologische Assoziation der Mnemonik.

Das poetisch-formale Mittel der Alliteration bietet zudem eine ähnliche Merkhilfe wie die typologische Assoziation der Mnemonik. Und schließlich nehmen einige der Texte, wie das bereits mehrfach zitierte Maxims I, explizit Bezug auf Mechanismen der Wissensvermittlung: „Befrage mich mit weisen Worten … Kluge Menschen sollen weise Worte wechseln.“

Vermittelnder Rahmen

Betrachtet man die altenglischen Listengedichte, fällt auf, dass viele von ihnen – wenngleich nicht alle – Situationen beschreiben oder zumindest implizit andeuten, in denen Wissen vermittelt wird. Eingangs wurden die ersten Zeilen von Maxims I zitiert. Deren Aufforderung „Befrage mich mit weisen Worten“ und die Ankündigung „Ich will dir mein Geheimnis nicht verraten, wenn du mir deinen Geist verwehrst“ setzen eine weitere Person voraus, an die sich diese Worte richten: ein nicht näher beschriebenes fiktives Gegenüber oder sogar – quasi aus dem Text heraus in die außertextliche Realität – die Leser·innen des Texts selbst.

Das altenglische Listengedicht Precepts stellt seine Auflistung ethischer Grundsätze als die guten Ratschläge eines Vaters an seinen Sohn dar:

Precepts, 1–3

Ðus frod fæder   freobearn lærde,
modsnottor mon,   maga cystum eald,
wordum wisfæstum,   þæt he wel þunge
 
„So sprach ein Vater, der weise Mann
lehrte sein edles Kind, ein Mann alt in Tugend,
mit umsichtigen Worten, dass es ihm wohl ergehe.“

Ein anderes Gedicht, Vainglory („Ruhmsüchtigkeit“), wird mit der Erklärung eingeleitet, die folgenden Weisheiten seien der ansonsten nicht weiter auftretenden Erzähler·in („mir“) einst von einem weisen Mann mitgeteilt worden; in Solomon and Saturn stellen und beantworten der für seine Weisheit bekannte jüdische König Salomon und die antike Gottheit Saturn sich gegenseitig Fragen. Widsith schafft sogar eine doppelte Erzählstruktur, indem die ersten neun Zeilen den Rest der Dichtung als die Rede des (fiktiven) Sängers „Widsith“ ausweisen, dessen Name soviel wie „Weitgereist“ bedeutet und der viele „Völker“ (þeoda) und Herrscherhöfe besucht habe. Im Folgenden listet der durch diese Vorrede zum Haupterzähler avancierte „Widsith“ Volksgruppen und Herrscher auf – meist im Stile von Aussagesätzen wie

Widsith, 18–19

Ætla weold Hunum,   Eormanric Gotum,
Becca Baningum,   Burgendum Gifica

Attila herrschte über die Hunnen, Ermanarich über die Goten,
Becca über die Baninger, Gifica über die Burgunder.

Eingestreut finden sich zusätzlich erzählerische Elemente, etwa in Form von Anspielungen auf historische oder aus der Heldensage bekannte Ereignisse, aber auch persönliche Erinnerungen Widsiths: So habe er beispielsweise die Prinzessin Ealhild an den Hof Ermanarichs begleitet, wo ihm große Ehre zuteil geworden sei – dies steht implizit im Gegensatz zum einleitenden Text, der auf Ermanarichs üblicherweise unrühmliche Rolle in der germanischen Heldensage anzuspielen scheint (in anderen Texten ist Ermanarich beispielsweise der Widersacher Dietrichs von Bern und lässt seine eigene Gattin, eben jene Ealhild, aufgrund angeblicher Untreue hinrichten).

Historische Manuskriptseite. Der Anfang der Dichtung "Widsith" im Exeter Book
Abb. 3: Der Anfang der Dichtung Widsith im Exeter Book

Dass die Zusammenstellung von Volksgruppen und Herrschern historisch keinen Sinn ergibt – zwischen manchen der historisch identifizierbaren Herrscher liegen mehrere Jahrhunderte – erscheint dabei fast weniger auffällig, als dass die schiere Fülle der Namen die Vorstellung eines zugrundeliegenden Reiseberichts ad absurdum führt. Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass die Geschichte des fahrenden Sängers dazu dient, die folgende Auflistung von Namen zu rechtfertigen und nicht umgekehrt. Bestünde der Zweck der Namenslisten nur darin, Widsiths Geschichte auszuschmücken, hätte ein Bruchteil der fast telefonbuchartig anmutenden Namensliste genügt. Wie bei den anderen erwähnten Gedichten steht also allen erzählerischen Ausschmückungen zum Trotz die Liste als solche im Zentrum.

Erzeugung von Aufmerksamkeit und Vermittlung von Listenwissen

Es stellt sich also die Frage, wozu die Einbettung der Liste in eine solche fiktive Erzählsituation überhaupt nötig ist. Eine mögliche Antwort liegt zumindest im Fall von Widsith auf der Hand: Die den Haupttext einrahmende Erzählsituation, die in Widsith sogar durch eine rudimentäre Handlung angereichert ist, schafft einen fiktiven Kontext, in dem die Aneinanderreihung von Namen gelesen werden kann. Sie vermittelt also zwischen der für sich genommen sperrigen Auflistung und der Leser- bzw. Hörerschaft und verleiht der Liste so eine zusätzliche Bedeutungsebene. Es handelt sich nunmehr nicht um eine reine Ansammlung von Namen, sondern die Namen sind in eine – wenngleich nur angerissene – Handlung integriert. Diese Einbettung erfüllt (ob bewusst gewollt oder nicht) eine bestimmte Funktion: Wie Melanie Möller anmerkt, besteht Rhetorik „zu wesentlichen Teilen im Erzeugen von Aufmerksamkeit“, was etwa durch das Hervorrufen von Spannung oder Staunen, aber auch durch ästhetische Reize geschehen kann. Melanie Möller: Rhetorik und Philologie. Fußnoten zu einer Theorie der Aufmerksamkeit. In: Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung. Hg. von Jürgen Paul Schwindt. Frankfurt am Main 2009, 137–159, S. 138, 143.Auch die moderne empirische Forschung zur Aufmerksamkeitslenkung und -erzeugung legt nahe, dass ästhetisches Erleben oder emotionale Nähe Aufmerksamkeit erregen. Martin Baisch, Andreas Degen und Jana Lüdtke: Vorbemerkung. In: Wie gebannt: Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Hg. von Martin Baisch, Andreas Degen und Jana Lüdtke. Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 191. Freibrg i.Br./Berlin/Wien 2013, S. 9–11.

Die nur angerissene Geschichte des fahrenden Sängers, die auch emotionale Passagen beinhaltet (etwa die Andeutung, dass das Reisen auch Trennung von Verwandten und Freunden bedeutet), erzeugt beim Publikum Interesse und vielleicht sogar eine Form emotionaler Bindung: Im Idealfall möchte man mehr über Widsiths Schicksal erfahren und lernt quasi ganz nebenbei noch eine Vielzahl von Herrscher- und Volksnamen kennen. Auch im Fall von Maxims I erzeugt die direkte Ansprache des Publikums zu Beginn der Dichtung – „Befrage mich mit weisen Worten“ – Aufmerksamkeit und Interesse; Burckhard Wessel betont, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Einleitung eines Texts darin liege, das Publikum einer Rede aufmerksam zu stimmen. Burkhard Wessel: Attentum parare, facere. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding, Bd. 1. Berlin/Boston 2012, Sp. 1161–1163, Sp. 1161.
 
Darüber hinaus verändert die Einführung einer fiktiven Vermittlungssituation die formale Beschaffenheit der jeweiligen Dichtung: Es handelt sich nunmehr nicht um reine Listen, sondern um Texte, die enzyklopädische Elemente (also Ansammlungen von Wissensinhalten) mit Handlungsmomenten verbinden. Die fiktiven Kontexte, in die die jeweiligen Listen eingebettet sind, beeinflussen also die Genrezuordnung der jeweiligen Texte. Sie sind weder eindeutig als Liste noch als Erzählung erkennbar. Durch den Rahmen einer fiktiven Vermittlungssituation – selbst, wenn diese nur angedeutet ist – vermitteln die Listengedichte zusätzlich eine ganz andere Form von Wissen als jenes, das in ihnen transportiert wird, nämlich die Kenntnis möglicher Mechanismen der Wissensvermittlung. Die Texte stellen nicht mehr bloße Ansammlungen von Wissensinhalten dar, sondern zeigen, wie gesammeltes Wissen innerhalb einer kommunikativen Situation vermittelt oder genutzt werden kann. Indem die entsprechenden Texte explizit oder zumindest im Geist der Leser·innen eine fiktive Erzählsituation herstellen, zeigen sie die Übermittlung des in Form von Listen gespeicherten Wissens quasi im Vollzug. Das Publikum kann also mitverfolgen, wie in Listen gesammeltes Wissen ausgetauscht und weitergegeben wird. Von dieser Perspektive aus gesehen ist der Inhalt der Liste beinahe gleichgültig: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Inhalte der Liste, sondern die literarischen Mechanismen, durch die Wissen vermittelt werden kann.

Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Inhalte der Liste, sondern die literarischen Mechanismen, durch die Wissen vermittelt werden kann.

Die Dichtung selbst nimmt dabei eine „poetologische“ Funktion ein, d.h. sie zeigt modellartig, wie eine bestimmte Art von Dichtung verfasst werden und in einem praktischen Kontext als Wissensträger funktionieren kann. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass es sich um eine ganz andere Form von Wissen handelt, das die Listengedichte in erster Linie vermitteln: nicht das in den Listen gesammelte Wissen, sondern das Wissen, wie mithilfe von Listen Wissen vermittelt werden kann. (Wobei das in den Listen versammelte Wissen, so banal es mitunter ist, natürlich trotzdem vorhanden ist und ggf. ebenfalls aufgenommen wird.) Das soll nicht heißen, dass die in den altenglischen Listendichtungen beschriebenen Formen des Austauschs und der Weitergabe von Wissen auch so tatsächlich stattgefunden haben müssen. Betrachtet man die Texte im Kontext ihrer Überlieferung, stellt man fest, dass sich die Mehrzahl von ihnen im Exeter Book befindet, einem Kodex des ausgehenden 10. Jahrhunderts, der sich in vielfältiger Weise mit unterschiedlichen Wissensformen auseinandersetzt: Er beinhaltet unter anderem die beiden einzigen vollständig erhaltenen altenglischen Versionen von Texten der „Bestiarium“-Tradition (The Panther und The Whale, zusammen bekannt als „altenglischer Physiologus“) – einer Tradition, die das angebliche Verhalten von realen und fiktiven Tieren moralisch deutet und die jeweiligen Tiere damit zu Beispielen bestimmter christlicher Tugenden oder Laster macht.

Betrachtet man die altenglischen Listengedichte im Kontext der vielfältigen Formen der Wissensvermittlung, die das Exeter Book versammelt, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass es in ihnen auch – oder vielleicht sogar in erster Linie – um das Ausprobieren möglicher Formen des Wissenstransfers, also der Weitergabe und damit einhergehenden Veränderung des Wissensbestands, ging. Möglicherweise stellen diese Gedichte den Versuch dar, die aus der antiken Rhetorik bekannten Traditionen topischer Verknüpfung mit der volkssprachlichen Tradition der alliterativen Dichtung zu verbinden. Was diese Texte in jedem Fall zeigen, ist, wie die Einbettung von Listen eine fiktive Vermittlungssituation – selbst wenn diese nur angerissen ist – im Vergleich zur ungerahmten Liste eine Veränderung des transportierten Wissens bewirken und gleichzeitig eine neue Form von Dichtung hervorbringen kann.

Jan-Peer Hartmann ist Anglist und arbeitet als Post-Doc am SFB 980 Episteme in Bewegung.