Im Jahre 1840 wurde nach vielen vergeblichen Anläufen der Runentext des Ruthwell Cross entschlüsselt. Dabei blieben jedoch eine Reihe von Fragen offen. Die Rätselhaftigkeit der Inschrift scheint von den Erbauern des Kreuzes intendiert. Das Ruthwell Cross lädt dazu ein, die spielerischen Seiten frühmittelalterlicher Religiosität zu entdecken.
Als der Reverend Henry Duncan (1774–1846) im Jahr 1799 die Pfarrgemeinde von Ruthwell übernahm, scheinen ihm sofort die rötlichen, mit Reliefs und Inschriften verzierten Steinfragmente aufgefallen zu sein, die über den Kirchhof verstreut lagen. Diese Fragmente, so erfuhr er auf Nachfrage, seien die Bruchstücke eines monumentalen Kreuzes, das einst in der Kirche gestanden habe, bis es 1642 auf Geheiß der General Assembly der Church of Scotland niedergeworfen und zerstört wurde.
Diese Anordnung seitens des höchsten Gremiums der schottischen Nationalkirche, das Kreuz niederzureißen, ist kein Einzelfall. Im Zuge des reformatorischen Bildersturms kam es in weiten Teilen Europas zur Zerstörung von Gemälden, Skulpturen und anderen religiösen Kunstwerken – teilweise sogar von Kirchenfenstern und Orgeln –, die aus Sicht der Reformatoren im Widerspruch zum Bilderverbot der zehn Gebote standen und entsprechend als götzenartige Abbilder angesehen wurden. Die presbyterianische Church of Scotland war in dieser Hinsicht besonders streng. Sie hatte bereits 1640 einen Erlass zur Zerstörung „götzenartiger“ Monumente veröffentlicht, musste aber zwei Jahre später noch einmal eine persönliche Erinnerung an den Ältestenrat der Gemeinde von Ruthwell schicken, damit dem Befehl auch Folge geleistet wurde. Anscheinend wollten sich die Gemeindemitglieder nur ungern von ihrem eindrucksvollen Monument trennen, das seit Menschengedenken im Mittelpunkt des Gemeindelebens stand und das inzwischen sogar zu einer Art Touristenattraktion geworden war, wie eine Notiz des Gymnasiallehrers und Hobbyantiquars Reginald Bainbrigg (1545–1606) aus Appleby (Westmorland) nahelegt. Bainbrigg, der eine Privatsammlung römischer Steininschriften besaß, hatte Ruthwell 1599 besucht und eine kurze Beschreibung des Monuments an William Camden (1551–1623) geschickt, der an einer Neuauflage seiner erfolgreichen Britannia arbeitete (einer topographischen und historischen Beschreibung Britanniens, die erstmals 1586 erschienen war). Aus unbekannten Gründen fand Bainbriggs Notiz keine Verwendung. Aber selbst wenn das Monument in der Britannia erwähnt worden wäre, hätte das der ikonoklastischen Zerstörungswut der Presbyterianer wohl kaum Einhalt geboten.
Als Duncan die Pfarrgemeinde von Ruthwell rund 150 Jahre später übernahm, hatte sich das religiöse Klima gewandelt. Im ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigte sich die gebildete Mittelschicht mit Naturwissenschaft oder Geschichte, klassifizierte Pflanzen und Schmetterlinge oder sammelte prähistorische Urnen und Inschriften. Landgeistliche wie Duncan, oft mit großzügigem Auskommen und genügend Freizeit gesegnet, standen dabei häufig an vorderster Front. Duncan selbst war vielseitig interessiert, er betrieb Geologie und Altertumskunde, widmete sich aber auch aktiv der Wohlfahrtspflege, gründete die erste Sparkasse Schottlands und gab mit dem Dumfries and Galloway Courier eine Wochenzeitschrift heraus. Die Fragmente des Steinkreuzes, auf denen er lateinische Inschriften und „sächsische Runen“ (also einheimische „angelsächsische“, nicht skandinavische) identifizierte, scheinen ihn von Anfang an fasziniert zu haben. Duncan machte sich daran, die verschiedenen Fragmente zusammenzufügen. 1802 wurde seine Rekonstruktion im Garten des Pfarrhauses errichtet. Nachdem beim Ausheben eines Grabes weitere Fragmente zutage gefördert worden waren, wurde 1823 der Kreuzbalken hinzugefügt, wobei fehlende Teile durch freimaurerische Symbole nach Entwürfen Duncans ersetzt wurden, deren christliche Herkunft unverkennbar ist: Besonders auffällig ist dies im Fall des gleichschenkligen Dreiecks und der Sonnenmonstranz, die sich im jeweiligen Zentrum der beiden Breitseiten befinden, aber auch bei den Tierdarstellungen (u.a. Wal und Hahn). John L. Dinwiddie zufolge war Duncan ein „enthusiastischer Freimaurer“; zudem erlaubte die Wahl der Symbole eine Abgrenzung vom katholischen Dogma, die auch im Schottland des frühen 19. Jahrhunderts noch politisch erforderlich war, während sich das Freimaurertum dort großer Beliebtheit erfreute. John L. Dinwiddie: The Ruthwell Cross and Its Story: A Handbook for Tourists and Students (Dumfries: Robert Dinwiddie, 1927), S. 105–106.
Das von Duncan rekonstruierte Kreuz (das seit 1887 in der Kirche steht) bietet mit rund 5,5 m Höhe einen monumentalen Anblick (Abb. 1). Die beiden Breitseiten zeigen Bibelszenen in Reliefform und einfassende Beschriftungen in lateinischer Sprache und Schrift (Abb. 2). Auf den Schmalseiten befinden sich bis zur Höhe des Kreuzkopfes Weinranken mit Vögeln und Fabeltieren. Diese sind von einer mit Runen beschrifteten Borte umgeben. Frühe Antiquare wie Bainbrigg oder der spätere Bischof von Carlisle, William Nicolson (1655–1727), der die Fragmente 1697 begutachtete, waren fasziniert von diesen „sächsischen Buchstaben“ – nicht zuletzt, weil sie sie nicht entziffern konnten. So rankten sich allerlei wundersame Legenden um das zerstörte Monument, etwa die Geschichte, dass das tonnenschwere Steinkreuz nach einem Schiffbruch im Solway Firth an Land geschwemmt oder gar von Engeln durch die Luft transportiert worden sei.
Während die lateinischen Inschriften die Antiquare vor keinerlei Schwierigkeiten stellten (es handelte sich um einfache Beschreibungen der Reliefbilder oder dazu passende Bibelzitate), scheiterten die ersten Versuche, den Runentext zu entschlüsseln, zu Beginn des 19. Jahrhunderts grandios.
Der isländische Sprachforscher Þorleifur Guðmundsson Repp (1794–1857) produzierte eine fragmentarische Übersetzung, aus der Duncan eine Erzählung über einen Raubüberfäll auf Kirchenland mit anschließender Reparationszahlung strickte, die auf dem Kreuz dokumentiert sei. Repps Kollege Finnur Magnusson (1781–1847) sah in der Inschrift eine Hochzeit verewigt und glaubte sogar, den Verfasser des Textes – einen gewissen Ofa, Abkömmling des Voda – und das Jahr der Inschrift – 650 n. Chr. – rekonstruieren zu können. Erst dem englischen Historiker und Sprachwissenschaftler John Mitchell Kemble (1807–1857) gelang es 1840, den Text korrekt zu entschlüsseln und als unkonventionellen Bericht über die Kreuzigung Christi aus der Sicht des Kreuzes zu identifizieren.
Wenig später fiel ihm eine kürzlich wiederentdeckte altenglische Handschrift in die Hände, die nach ihrem Fundort in Italien heute als „Vercelli Book“ bezeichnet wird. Diese üblicherweise ins späte 10. Jahrhundert datierte Handschrift enthält eine sehr viel längere Dichtung, die teilweise starke textliche Übereinstimmungen mit dem Runengedicht aufweist. Dieser von der Forschung als The Dream of the Rood bezeichnete Text berichtet von einer Vision, in der das Kreuz – sprechend und mit menschlichen Gefühlen ausgestattet – seine eigene Lebensgeschichte erzählt. Christus erscheint darin als heroische Figur, die voller Elan auf das Kreuz zueilt, daran emporsteigt und es dem Kreuz sogar verbietet, umzustürzen und damit die Henker zu töten; das Leiden ist dem Kreuz selbst vorbehalten, das von Pfeilen durchbohrt Schmerz und Verzweiflung empfindet. Das Kreuz berichtet darüber hinaus, wie es nach der Kreuzigung vergraben und später von Christen wiederentdeckt worden sei, die es als Reliquie verehrten und mit Silber und Edelsteinen umhüllten. Die textlichen Ähnlichkeiten zwischen der Inschrift auf dem Kreuz und dem Dream of the Rood erlaubten es Kemble und späteren Generationen von Wissenschaftler*innen, den teilweise zerstörten Runentext zu ergänzen und Mutmaßungen über fehlende Verse anzustellen.
Mit der Entschlüsselung schien das Runenrätsel vorerst gelöst. Die Rätselhaftigkeit der Runen schien allein darin begründet, dass sie einem überkommenen Schriftsystem entstammten, dessen Kenntnis über die Jahrhunderte verloren gegangen war.
Oder konnte es etwa sein, dass die Runen bereits zum Zeitpunkt ihrer Anbringung etwas Rätselhaftes an sich hatten?
Immerhin waren ja die Hauptinschriften des Kreuzes – also jene, die die Reliefbilder auf der Vor- und Rückseite begleiteten – in lateinischer Sprache und Schrift verfasst. Gab es also einen Grund, warum man für die Seiteninschriften ein anderes Schriftsystem wählte?
Expert*innen sind sich über die Bedeutung von Runen als Medium der Verschriftlichung uneins: Waren sie ein im frühmittelalterlichen Britannien allgemein bekanntes und verständliches Schriftsystem? Oder zeugen sie im Gegenteil vielleicht sogar schon vor der Christianisierung und der damit einhergehenden Einführung der lateinischen Schrift von einem Geheimwissen, das nur wenigen Kundigen vorbehalten war? Grundsätzlich ist jedenfalls festzustellen, dass Runen zu keinem Zeitpunkt eine ähnliche Anwendungsbreite fanden wie die lateinische Schrift. Runeninschriften waren üblicherweise kurz, beschränkten sich auf Besitzanzeigen auf Gebrauchsgegenständen (Werkzeuge, Waffen, Schmuck) oder wurden für kurze Monumentalinschriften (Grab- und Erinnerungssteine) verwendet und hatten gewöhnlich einen formelhaften Charakter. Erst im Spätmittelalter, als Runen in der Schriftkultur bereits seit Jahrhunderten durch die lateinische Schrift abgelöst waren, tauchten Runen in Nordwestskandinavien unvermittelt als Medium der alltäglichen Kommunikation unter Händlern und anderen Vertretern der Mittelschicht auf.
Die Tatsache, dass die frühesten Runeninschriften oft reine Aneinanderreihungen in der konventionellen Reihenfolge des Futhark (also des Runenalphabets, benannt nach den ersten sechs Zeichen, F, U, Þ, A, R und K) darstellen, legt zudem nahe, dass die Lese- und Schreibfähigkeit zunächst sehr eingeschränkt gewesen sein dürfte und möglicherweise bereits die bloße Anwesenheit der Zeichen – unabhängig von einem verständlichen Inhalt – Macht oder Zauberkraft verhießen. Eine reine Gegenüberstellung von christlicher und vorchristlich-heidnischer Schriftkultur lässt sich jedoch nicht aufrechterhalten, da viele runische Grabinschriften christliche Inhalte haben. In der frühmittelalterlich-christlichen Buchkultur Britanniens dienen Runen – soweit sie überhaupt auftauchen – dem amerikanischen Mediävisten John D. Niles zufolge meist der spielerischen Verrätselung von Inhalten, die zunächst verborgen bleiben sollen. John D. Niles: Old English Enigmatic Poems and the Play of the Texts. Turnhout 2006, S. 223.
Tatsächlich gibt es mehrere in altenglischer Sprache verfasste literarische Rätsel, die durch Runen verschlüsselte Lösungshinweise enthalten.
Es ist also durchaus denkbar, dass auch zu der Zeit, als das Kreuz von Ruthwell errichtet wurde, die Fähigkeit, die lateinischen Inschriften zu lesen, weiter verbreitet war als diejenige, den Runentext zu entziffern – obwohl der letztgenannte in der Volkssprache geschrieben war.
Am Ende waren es gar nicht so sehr die Runen selbst, an denen frühe Deutungsversuche wie die von Repp und Magnusson scheiterten. Obwohl die im frühmittelalterlichen Britannien verwendete Variante des Futhark Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht eingehend erforscht war, hatten die beiden isländischen Gelehrten die einzelnen Runen mehr oder weniger korrekt interpretiert. Das Problem lag vielmehr in deren unkonventioneller Anordnung begründet. Versuchen Sie doch einmal selbst, die folgenden deutsche Übersetzung der Ostseite der Inschrift zu entschlüsseln.
Wie Kemble feststellte, muss man in der linken oberen Ecke beginnen, bis zum Ende der Zeile lesen, dann der rechten Spalte Zeile für Zeile bis nach unten folgen und danach dasselbe mit der linken Spalte tun. Keine einfache Aufgabe, nicht zuletzt, da Wortabstände und Satzzeichen fehlen und sich die oberste Zeile zudem in mehreren Metern Höhe befindet. Die Übersetzung des gesamten Texts lautet entsprechend:
„Der allmächtige Gott bereitete sich vor, den Galgen zu besteigen, mutiger als alle Menschen. Ich wagte nicht, mich niederzubeugen. Ich hob den mächtigen König empor. Ich wagte nicht, den Herrn des Himmels aufzuhalten. Wir beide wurden von Menschen entehrt. Ich war mit Blut besudelt, das der Seite jenes Mannes entsprang.“ (Ostseite)
„Christus war am Kreuz. Doch eilig kamen aus der Ferne edle Menschen zu ihm. Ich sah all dies. Schwer plagte mich der Kummer. Ich neigte mich den Händen jener Männer entgegen; verwundet mit Pfeilen. Sie legten den Gliedermüden nieder, standen am Haupt seines Leibes. Sie sahen dort den Herrscher des Himmels.“ (Westseite) Meine Übersetzung folgt der allgemein anerkannten Rekonstruktion des Textes, hier nach Éamonn Ó Carragáin: Ritual and the Rood. Liturgical Images and the Old English Poems of the Dream of the Rood Tradition. London 2005, S. 79–81 und 180–181.
Könnte es sich also bei der Verwendung der Runen und ihrer unkonventionellen Anordnung um eine Art spielerische Verrätselung handeln, die den altenglischen Text als ein Geheimnis ausstellt, das es zu lüften gilt?
Ich habe bereits erwähnt, wie die altenglischen Rätsel vereinzelt auf Runen zurückgriffen. Viele von ihnen ähneln dem Runengedicht von Ruthwell auch darin, dass sie Gegenstände oder Tiere vermenschlichen und aus der Ich-Perspektive erzählen lassen. So erzählt etwa ein Stier, wie er zum Pflügen eingesetzt, später geschlachtet und und seine Haut für Lederriemen oder Pergamentseiten verwendet worden sei. In den Rätseln dient diese ungewohnte Erzählperspektive der Erschwerung der Lösung. Genau diesen Kunstgriff finden wir auch im Runengedicht – wie auch im Dream of the Rood, mit dem Unterschied, dass dort die Erzählerfigur explizit genannt und als das Kreuz identifiziert wird. Im Runentext müssen die Leser*innen dagegen die Identität der Erzählfigur allein aus dem Inhalt erschließen, was jedoch, wie wir gesehen haben, durch die Wahl der Schrift und die unkonventionelle Anordnung der Runen erschwert wird.
Welchen Grund könnten die Erbauer des Kreuzes gehabt haben, den Text auf diese Weise zu verrätseln?
Einen Hinweis liefert uns die christliche Typologie. Mittelalterliche Theologen glaubten, nicht nur in der Bibel, sondern in der gesamten Geschichte und selbst in der Natur Hinweise auf Gottes Wirken erkennen zu können. Nach der Lehre des vierfachen Schriftsinns war nicht nur jedes biblische Ereignis in seiner geschichtlichen Einzigartigkeit Bestandteil eines allumfassenden Plans (wörtlicher oder Literalsinn), sondern beinhaltete zugleich moralische Anweisungen für die Gläubigen (tropologischer Sinn) und verwies zudem auf sowohl gegenwärtige als auch zukünftige Ereignisse (typologischer und anagogischer Sinn). Dieses Verständnis wurde auf die gesamte Geschichte ausgeweitet, so dass selbst der an den Mast gefesselte Odysseus als Sinnbild Christi verstanden werden konnte. Die allegorischen Deutungen waren dabei nicht festgelegt, sondern konnten in immer neuer Weise kombiniert und aufeinander bezogen werden. Auch zielte die Auslegung nicht darauf ab, Gottes Plan in all seinen Einzelheiten zu ergründen, sondern diente v.a. der Stärkung des Glaubens und zur Untermauerung theologischer Argumente sowie als Hilfe bei moralischen Entscheidungen.
Die ganze Welt stellte ein Rätsel dar, das sich zwar nie eindeutig lösen ließ, jedoch voller Hinweise auf eine versteckte tiefere Wahrheit war.
Dazu passt eine Beobachtung der englischen Mediävistin Christine Fell (1938–1998), der zufolge das altenglische Wort run, „Rune“, das mit dem deutschen Wort „raunen“ verwandt ist, in volkssprachlichen Texten häufig zur Bezeichnung der christlichen Mysterien verwendet wird. Christine E. Fell: „Runes and Semantics“. In: Alfred Bammesberger (Hg.): Old English Runes and their Continental Background. Heidelberg 1991, S. 206. Was also wäre ein passenderes Medium, um das zentrale Ereignis der christlichen Heilsgeschichte, die Kreuzigung und Auferstehung Christi, zu verrätseln?
Wir finden in der mittelalterlichen Literatur oft einen spielerischen Umgang mit Form und Inhalt. So schrieben frühmittelalterliche Geistliche wie Venantius Fortunatus, Bischof von Poitiers (etwa 540–610), der Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus (ca. 780–856) oder Alkuin (735–804), Berater Karls des Großen, Figurengedichte, bei denen die Anordnung der Wörter geometrische Formen ergaben, oft verstärkt durch literarische Techniken wie Chiasmus (kreuzförmige Satzstruktur) oder Akrostichon (die Anfangsbuchstaben der einzelnen Zeilen ergeben zusammen Wörter oder Sätze). Hrabanus Maurus’ De laudibus crucis („Vom Lob des heiligen Kreuzes“, um 825) etwa umfasst 28 Gedichte in Kreuzform. Das bereits erwähnte Gedicht The Dream of the Rood mit seiner auffälligen Ähnlichkeit zum Runentext des Kreuzes von Ruthwell verwendet häufig Kreuzstrukturen und verweist so auf seinen Erzähler, das personifizierte Heilige Kreuz. Im Runengedicht von Ruthwell sind solche Strukturen nur zu erahnen, die Kreuzform des Monuments, auf der die Schriftzeichen angebracht sind, gibt aber letztendlich die Identität des Erzählers preis. Ein aus der Perspektive des Kreuzes geschriebenes Gedicht, das auf einem Steinkreuz angebracht wurde? Was wie ein literarischer Witz aus der Feder von Joachim Ringelnatz daherkommt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als typisch mittelalterlicher Hinweis auf die Rätselhaftigkeit der Heilsgeschichte. Die geheimnisvolle Gestaltung soll die Leser*innen zum Nachdenken und zur Beschäftigung mit den religiösen Inhalten anregen.
Wir werden nie genau wissen, was sich die Schöpfer des Kreuzes von Ruthwell beim Erstellen der Bilder und Inschriften gedacht haben mögen. Aber es liegt nahe, das komplexe Spiel unterschiedlicher Formen von Verrätselung (Vermischung lateinischer und runischer Zeichen, absichtlich erschwerte Lesbarkeit des Runentextes, Verwendung eines Schriftträgers, dessen Form auf die Identität des Erzähl-Ichs verweist) mit zeitgenössischen religiösen Deutungsmustern und den damit zusammenhängenden Praktiken in Verbindung zu bringen, die die Welt als göttliches Mysterium darstellen. Im Spiel von Form und Inhalt wurde augenscheinlich eine Möglichkeit gesehen, den theologischen Wahrheiten der Texte näherzukommen.
Jan-Peer Hartmann ist Anglist und arbeitet als Post-Doc am SFB 980 Episteme in Bewegung.