Vor allem im Hinblick auf umstrittene Objekte, deren Provenienz und Bedeutungen nicht abschließend geklärt sind, könnten wissensgeschichtliche Methoden bei der Entwicklung objektgerechter Ausstellungspraktiken neue Impulse setzen.

In den Fokus der Debatte um die Problematisierung ethnologischer Sammlungen geriet im Zuge der Eröffnung des Humboldt Forums im historischen Zentrum Berlins das sogenannte ‚Pracht- oder Prunkboot‘ von der Südseeinsel Luf. Exemplarisch für die Berichterstattung in den Medien: Ribi, Thomas: „Das ‚Luf‘-Boot soll ein Prunkstück des Humboldt Forums werden. Doch hinter seiner Herkunft steckt ein dunkles Kapitel deutsche Geschichte“, NZZ, vom 19. Mai 2021. Das ozeanische Auslegerboot ist ein langes, schmales, aus Holz geschnitztes Plankenboot, dessen Teile durch eine Stecktechnik so ineinandergefügt wurden, dass man ohne Nägel auskam. Neben Bindungen aus Rotan und Kokosfaserschnur wurde pflanzliche Kittmasse verwendet, um die Bindungen abzudichten. Das knapp zehn Meter hohe, etwas über 15 Meter lange und sechseinhalb Meter breite Boot mit aus Palmblattstreifen geflochtenen Segeln bot circa 50 Personen Platz. Seine Größe, die aufwändigen Schnitzereien und prachtvollen Verzierungen in roter, schwarzer und weißer Farbe markieren eine herausgehobene Bedeutung. Das hochseetüchtige Handels- und Kriegsschiff kam jedoch nie zum Einsatz und wurde zu einer Zeit gefertigt, als bereits nicht mehr genügend Personen auf der Insel lebten, um es zu Wasser zu lassen.

Farbfoto des Luf-Boots im Ausstellungsraum, umgeben von weiteren Objekten
Abb. 1: Das Auslegerboot von der Insel Luf (Papua-Neuguinea) in der Ozeanien-Ausstellung des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum im Berliner Schloss.

Das Luf-Boot befindet sich gegenwärtig im Bestand des Ethnologischen Museums Berlin und ist seit dem 23. September 2021 im neu eröffneten Humboldt Forum zu sehen. Es kam 1904 nach Deutschland und gehört heute – wie die Benin-Bronzen – zu den umstrittensten Beutekunst-Objekten im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin. Seine Provenienzgeschichte ist bis dato nicht ausreichend aufgearbeitet und die Staatlichen Museen sehen sich massiv den Vorwürfen ausgesetzt, unter dem Deckmantel eines vermeintlich rechtmäßigen Erwerbs viel zu lange aggressive koloniale Akte der Vernichtung und Aneignung verharmlost, einen intransparenten Umgang mit der Erwerbsgeschichte gepflegt, letztere im offiziellen Narrativ glattgestrichen zu haben und kritischen Fragen ausgewichen zu sein. Tatsächlich ist zwar der Ankauf des Bootes durch den Preußischen Staat im Kontobuch des Preußischen Finanzministeriums mit dem Vermerk „Hernsheim, Hamburg, 1 Boot von den Hermitinseln, 6000 Mark“ als Ausgabe belegt. Eduard Hernsheim, Inhaber der gleichnamigen Handelsgesellschaft in der Kolonie Deutsch-Guinea mit Hauptniederlassungen auf Jap (Karolinen), Jaluit (Marshallinseln) und Matupi (Bismarck-Archipel), hat das Boot von dem Kaufmann Max Thiel 1903 erworben und es 1904 nach Berlin verkauft. Wie es in den Besitz des Letzteren gelangte und welche Rolle sogenannte „Strafkommandos“ und kolonialer Druck spielen, lässt sich nur lückenhaft erschließen.

Das öffentliche Interesse drängt nun auf Transparenz in Bezug darauf, wie Wissenschaftler·innen, Kurator·innen und nicht zuletzt politisch Verantwortliche mit derartigen Lücken umgehen. Welche methodischen Verfahren ermöglichen neue Erkenntnisse und aus welchen Gemengelagen heraus werden heute politische Entscheidungen getroffen? Die Debatte erfährt besondere Relevanz und einen enormen Beschleunigungseffekt durch das Projekt Humboldt Forum, welches vorhandene Sammlungen reorganisiert und architektonisch im wiederaufgebauten Berliner Schloss als preußischen Staatsschatz rahmt, aber auch durch die Bestseller-Publikation Das Prachtboot (2021) von Götz Aly. Aly thematisiert in seinem Buch die gewaltsame Aneignung des nunmehr zum Flaggschiff des Humboldt Forums aufgestiegenen Bootes auf der Insel Luf und hinterfragt vor diesem Hintergrund die Redlichkeit provenienzgeschichtlicher Bemühungen und kulturpolitischer Präsentationsgesten. Die Ernsthaftigkeit der Kontaktaufnahme mit Herkunftsgesellschaften sowie der erklärte Wille zur Klärung offener Besitz- und Restitutionsfragen mutet in der Tat fraglich an angesichts der öffentlichkeitswirksamen Einbringung des Schiffes durch eine Wandöffnung im Innenhof des wiederaufgebauten Schlossgebäudes, die im Anschluss bautechnisch geschlossen wurde, sodass das Schiff das Gebäude nicht in unmittelbarer Zeit oder doch zumindest nicht auf die gleiche behutsame Weise wieder wird verlassen können.

Verborgene Dimensionen von Geltung und Wert

Im Kontext ihrer Replik auf Alys Buch warnt auch die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin vor der Fortschreibung eines einseitigen, eurozentrischen Blicks auf außereuropäische Artefakte. Hauser-Schäublin, Brigitta: „Warum das Luf-Boot im Humboldt Forum bleiben kann“, Die ZEIT, Nr. 29/2021 vom 15. Juli 2021, S. 53, vom 14. Juli 2021. Anders als Aly bringt sie dieses Argument jedoch, um das von ihm als „Beutekunst“ bezeichnete Objekt als Bestandteil der Berliner Sammlung zu legitimieren. Die Reduktion ethnologischer Objekte zu „Zeugen einer unrühmlichen europäischen Expansion, der Kolonialisierung eines großen Teils der Welt“ werde diesen grundsätzlich nicht gerecht. Hauser-Schäublin, Brigitta: „Von kulturellen Kostbarkeiten zu Dingen zweifelhafter Herkunft – Perspektiven auf außereuropäische Sammlungen in westlichen Museen“, Ringvorlesung „Wissensort Museum. Traditionen – Positionen – Perspektiven“ an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen vom 26. Januar 2016, vom 12. Februar 2016, Minute: 15:06. In der pauschalen Bewertung subalterner Kulturen als „ausgebeutet und betrogen“ setze sich die Vereinnahmung außereuropäischer Kulturen lediglich fort. In ihnen drücke sich nicht nur eine mangelnde Wertschätzung, sondern auch eine mangelnde Kenntnis der betreffenden Kulturen aus. Pauschalisierungen sowie den Zeitgeist bedienenden, „ideologisch aufgeladenen und quellengeklitterten Narrativen kolonialer Gräueltaten“ tritt Hauser-Schäublin entgegen mit der Forderung nach Differenzierung. Dabei versteigt sie sich aber selbst in einige unhaltbare Relativierungen. Dass kriegerisch gestimmte Stämme sich gegenseitig angriffen und sogenannte „Vergeltungsaktionen“ der Kolonialmächte gegen Kontrahenten auf Nachbarinseln unterstützten, legitimiert ja grundsätzlich nicht die Gewaltanwendung europäischer Kolonisatoren zur Durchsetzung von Handelsinteressen. Der Versuch, die Auswirkungen eines sogenannten „Strafkommandos“ durch den Vergleich mit vorhergehenden horrenderen Dezimierungen der Bevölkerungszahl durch Einschleppung von Krankheiten, Unterjochung und Auswirkungen von Naturkatastrophen zu relationieren und abzuschattieren, schwächt ihre Argumentation.

Das Verdienst von Hauser-Schäublins Beitrag zum Luf-Boot besteht darin, das Objekt in seinem Herkunftskontext zu fokussieren und dabei seinen epistemischen Status im Bezugsrahmen einer Ritualgemeinschaft genauer in den Blick zu nehmen. Sie beschreibt in ihrem Beitrag eine gravierende Umwertung des Objekts, die seiner Veräußerung vorhergeht und bereits innerhalb der Herkunftskultur durch die Produzenten und Nutzer stattfindet. Ein derart reich ornamentiertes Boot sei kein Alltagsgegenstand, sondern „Ausdruck der Corporate Identity von Männergemeinschaften“, die „in mächtigen Bootshäusern aufbewahrt [wurden], die zugleich Versammlungs-, Kult- und Begräbnisort von Männern waren.“ Hauser-Schäublin: „Warum das Luf-Boot im Humboldt Forum bleiben kann“. Hauser-Schäublin geht davon aus, dass das Luf-Boot im Namen eines solchen Oberhaupts einer Gemeinschaft gebaut wurde:

„Der Bau eines solchen Bootes war jeweils begleitet von Ritualen, die dem Boot und seiner Besatzung auf all ihren gewagten Unternehmungen Erfolg und Schutz durch jenseitige Mächte garantieren sollten. Mit dem Tod eines Häuptlings wurden solche Werke, besonders, wenn sie noch nicht eingeweiht waren, tabu, und niemand hätte es gewagt, ein solches Boot dennoch zu benutzen, als sei nichts geschehen. Manchmal waren es neu fertig gestellte Boote oder Männerhäuser, die deshalb [hier verweist die Autorin auf eigene Beobachtungen in Neuguinea, KH] nach dem Tode eines wichtigen Mannes – ein unheilvolles Omen – dem Zerfall überlassen wurden. Die vermeintlich vergebens investierte Arbeit in das Werk bedauerte niemand.“ Ebd.

Das Boot verliert durch den Tod des Häuptlings nicht nur ad hoc seinen sakralen Wert. In dem Moment, in dem es mit dem Tabu belegt ist, entzieht es den Mitgliedern der Gemeinschaft auch jegliche Möglichkeit einer zukünftigen Nutzung. Ebenso wie der gemeinsame Bau ein gemeinschaftsstärkender Akt war, mit dem sich die Gemeinschaft unter der Ägide eines Oberhauptes des Schutzes einer übermächtigen, übernatürlichen Kraft versichert, so ist fortan die Einhaltung des Tabus, mit der das Objekt nach dem Tode dieses Oberhauptes belegt ist, Schutz und Sinnstütze der Gemeinschaft. Hasselmann, Kristiane: „Hidden Dimensions. Eine Exploration der Latenz und Aktualität tabuartiger Normen“, in: dies. (Hg.): Hidden Dimensions. Zur Latenz und Aktualität tabuartiger Normen. München 2020, S. 1–18, hier: S. 4. Tabus sind in diesem Sinne Ausfluss einer hypostasierten Kraftvorstellung und haben einen festen „Sitz im Leben“, wie die US-amerikanische Anthropologin Ruth Benedict betont:

„Tabu oder die Kontrolle durch Enthaltung ist ein beständig wiederkehrender Aspekt des menschlichen Umgangs mit übernatürlicher Kraft. Weil das Übernatürliche machtvoll ist, ist es auch gefährlich.“ Benedict, Ruth: „Religion“, in: Boas, Franz (Hg.): General Anthropology, Chapter 14. Washington 1944 (1938), S. 627–665, hier: S. 644 (deutschsprachige Übersetzung von mir).

Angesichts dieses Gefahrenpotentials des mit dem Boot verhafteten Tabus erscheint die widerstandslose Veräußerung des Bootes eine nicht mehr ganz so naive, großzügige Geste. Vielleicht sind deshalb neue Fragen zu stellen: Entledigt sich die Gemeinschaft hier eines ‚Gefahrengutes‘ – eines gefährlichen Gegenstands, der bis in die heutige Zeit hinein dieses Stigma trägt? Gefährlich wird das Boot unter dem Blickwinkel des Tabus für die Europäer wohl nicht, denn „die Kategorie (des Tabus) verliert ihre Bedeutsamkeit, wenn sie vom positiven Aspekt desjenigen getrennt wird, von dem sie der negative Teil ist“. Ebd., S. 645 (deutschsprachige Übersetzung von mir). Inwiefern macht dieser Zusammenhang das Boot im musealen Kontext zu einem sensiblen Objekt auch jenseits der kolonialen Geschichte, die ihm zweifelsohne anhaftet? Diese Fragen ließen sich sicherlich produktiv mit der Herkunftsgesellschaft diskutieren, bei der in diesem Fall die Deutungshoheit liegt.

Von echten Tabus und modernen Tabuisierungsstrategien

Das genuine tapu ist eine performative Figur, das für Fremde überhaupt nur über eine dauerhafte und genaue Beobachtung des Verhaltens einer Gemeinschaft erkennbar wird. In der Gemeinschaft selbst ist es so nachhaltig internalisiert, dass Gründe nicht erörtert werden, gleichwohl es Gründe für das Tabu gibt. Siehe hierzu ausführlich den von mir herausgegebenen Sammelband Hidden Dimensions. Zur Latenz und Aktualität tabuartiger Normen (2020). Seine komplexe Struktur, die gestaltgebende und wertverleihende Kraft des Tabus scheint, wie Hauser-Schäublin richtig konstatiert, auf den ersten Blick weder mit modernen Wertvorstellungen noch mit einer modernen Geld- und Warenwirtschaft vereinbar.

Das Beispiel Luf-Boot zeigt, dass postkoloniale Perspektivierungen und Repräsentationskritiken stets mit der ethnologischen Methode des theoriegeleiteten Vergleichs und der kulturhistorischen Analyse von Kontexten unterlegt sein müssen, um zu einem differenzierten Blick auf die konkreten historischen und sozio-kulturellen Zusammenhänge zu gelangen. Im Sinne des von Donna Haraway entworfenen Konzepts eines „situierten Wissens“ gilt es jenseits von Objektivitätspostulaten partiale Perspektiven abzugleichen, verschiedene Wissensbestände zu verknüpfen und einen transdisziplinären Ansatz zu pflegen. Haraway, Donna J.: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M./New York 1995, S. 73–98. Vor allem aber sind sowohl historische als auch gegenwärtige politische Eigeninteressen von Institutionen zu hinterfragen und sich wandelnde gesellschaftspolitische Agenden, die bei der Betrachtung und Bewertung ethnologischer Objekte und Sammlungen eine Rolle spielen, kritisch zu reflektieren. Hauser-Schäublin: „Von kulturellen Kostbarkeiten zu Dingen zweifelhafter Herkunft“, Minute 2:40.

„Die Nachfolgegesellschaften der europäischen Kolonialstaaten […]“, heißt es in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, „[…] tun sich schwer mit der kolonialen Vergangenheit, erst allmählich lösen sich Tabus auf.“ Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Informationen zur politischen Bildung, Nr. 338/2018: Europa zwischen Kolonialismus und Dekolonialisierung, S. 77. Statt der Figur des Tabus innerhalb der Objektgeschichten gerecht zu werden, wird die Aufarbeitung dieser Geschichte selbst als (Quasi-)Tabu markiert. Der Begriff Tabu wird dabei nicht im genuinen Sinne verwendet, er markiert vielmehr jene gesellschaftlichen Schockwellen, die die politische Diskussion und rechtliche Aufarbeitung vermeintlicher Tabuthemen wie des Kolonialismus, verursachen, der als unhinterfragte Prämisse erschreckend lange unser kulturelles Selbstverständnis bestimmte und noch immer bestimmt. Auch als die postkoloniale Debatte bereits das Bewusstsein für die zahlreichen unrechtmäßigen Aneignungen und das damit einhergehende Präsentationsdilemma schärfte, wurde von den Institutionen die kritische Befragung von Besitzverhältnissen strategisch gemieden bzw. Ergebnisse und offene Fragen nicht publik gemacht, um die kostbaren Sammlungen nicht zu gefährden. Die Rede von gesellschaftlichen „Tabuthemen“ ist ein Krisensymptom für diese Meidungsstrategien, die nun durch eine offenere Verhandlung von Provenienzfragen, Deutungshoheiten und Restitutionsansprüchen angegangen werden und für Gerechtigkeit und Ausgleich sorgen sollen.

Museale Präsentation und Wissenschaftskommunikation

Neben der kritischen Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Institution, der provenienzgeschichtlichen Aufarbeitung einzelner archivierter Objekte sowie dem Dialog mit den Herkunftsgesellschaften und der Prüfung von Restitutionsansprüchen werden von Museen neue Ausstellungskonzepte und Präsentationsweisen ersonnen, die einen anderen Umgang mit diesen Artefakten erproben. Während künstlerische Zugriffe auf aufsehenerregende Weise neue Fragestellungen zu generieren und zur Diskussion zu stellen vermögen, geraten im musealen Setting vermeintlich festgestellte Objekte erst unter Verwendung wissensgeschichtlicher Methoden ernsthaft in Bewegung, enthüllen spezifische Objektbiographien, die es wert sind, von einem interessierten Publikum erkundet zu werden. Sie hierzu die erfolgreiche Arbeit des SFB-Transferprojekts „Gegenstände des Transfers. Konzepte zur Vermittlung von Transferprozessen zwischen Nahem Osten und Europa in der Vormoderne im musealen Kontext“ (2012–2016). Diese Transfer- und Verflechtungsgeschichten (entangled histories) beziehen sich zum einen auf die kulturhistorischen, aber eben auch auf kuratorische, institutionelle und sammlungspolitische Dynamiken, unter deren Bedingungen ein Objekt überhaupt erst zur Archivalie oder zum Ausstellungsobjekt wird; zum anderen auf Wissenstransfers, die vor Einbringung ins Museum, aber auch seither an und mit ihm stattgefunden haben. Hilgert, Markus: „Von der ‚Ambivalenz der Dinge‘ zur Objekt-Politik. Objektepistemologien im Spannungsfeld von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik“, in: ders./Simon, Henrike/Hofmann, Kerstin P. (Hg.): Objektepistemologien. Zur Vermessung eines transdisziplinären Forschungsraums. Berlin 2018, S. 9–31.

Mithilfe eines solchen wissensgeschichtlichen Ansatzes wäre der Versuch zu unternehmen, vom archivierten Artefakt ausgehend eine historische Kunst-, Lebens- und Wissenspraxis in ihrem spezifischen geographischen und sozio-politischen Kontext auszulesen und im historischen und aktuellen Bezugsfeld zu problematisieren. So wird sichtbar, in welcher Komplexität bei Ausstellungen, Fragen des „ob“ und des „wie“ zu beantworten sind, damit „vergangene und gegenwärtige Diskurse zu, Konzeptualisierungen von und Handlungsroutinen an, mit und infolge von Dingen“ produktiv in Beziehung gesetzt werden. Ebd., S. 15.

Am Beispiel des Luf-Boots zeigt sich, wie voraussetzungsreich und zugleich notwendig es ist, das „[…] Wissen über Dinge mit den darin vielfach implizit enthaltenen Konzeptualisierungen von Dingen sowie den Zusammenhang zwischen diesem Dingwissen und der epistemischen oder szientifischen Praxis […]“ Ebd., S. 9. erfahrbar zu halten. Museale Objekte haben multiple Biographien. Ihre Herkunftsgeschichten und Verwandtschaften legen Wissenstransfers frei, machen den Wandel von Wissensbeständen erfahrbar. Sie sind dabei selbst Aushandlungsorte verschiedenster Interessen, deren Ausläufer sich bis in die heutige Zeit ziehen.

Die Exponate des Ethnologischen Museums wirken im Humboldt Forum vor dem Hintergrund einer breit geführten postkolonialen Debatte auf irritierende Weise entkontextualisiert. Sie starren die Besucher·innen aus „Schaumagazinen“ in ihrer geballten Fremdheit an, formieren sich zu einem grotesken „Tanz der Trophäen“. Kilb, Andreas: „Tanz der Trophäen“, FAZ, Nr. 220/2021 vom 22. September 2021, S. 9. Zwar gibt es kleine Schautafeln zu „Männerhäusern“, zum Gebrauch ritueller Gegenstände und der Vergänglichkeit ozeanischer Kunst, der Bezug zu den Objekten bleibt jedoch vage. Wirklich aufregend wird der Umgang mit Objekten, wenn man tiefer in ihre kontroversen Geschichten eintaucht und dadurch Einblick in den Umgang mit lückenhaften Quellen gewinnt. Die Reflexion wie sich ein Objekt präsentiert, ermöglicht nicht zuletzt die Teilhabe an einem öffentlichen Diskurs, der sonst ein Streit unter Expert·innen zu bleiben droht. Das Humboldt Forum ringt derweil noch mit der historischen Last unrechtmäßiger Aneignungen und einer architektonischen Hülle, die eine Wunderkammer und einen Staatsschatz präfiguriert.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine stark eingekürzte Fassung des Artikels „Archivierte Artefakte als Agenten eines Wissenstransfers. Das ‚Prachtboot‘ der Insel Luf – ein Schlüsselobjekt des Berliner Humboldt Forums“, in: Andreas Wolfsteiner, Ekaterina Trachsel, Anselm Heinrich, Michael Bachmann (Hg.): LIVE ART DATA. New Strategies in Theatre Archiving / Neue Strategien der Theaterarchivierung, Universitätsverlag Hildesheim 2021, S. 98–109.

Kristiane Hasselmann ist Wiss. Geschäftsführerin des SFB Episteme in Bewegung und Theaterwissenschaftlerin. Sie leitet das SFB-Teilprojekt Öffentlichkeitsarbeit „Schauräume des Wissenstransfers“.