Die deutsche Universität hat eine ebenso unerschütterliche wie schädliche Vorliebe für befristete Arbeitsverträge. Welche Wissensgeschichten sich dahinter verbergen, zeigt Anita Traninger in ihrem Blogbeitrag.
Die seit langem schwelende und nun unter dem Hashtag #ichbinhanna erneut aufflammende Debatte über befristete Beschäftigungsverhältnisse konzentriert sich momentan auf den sogenannten Mittelbau, die wissenschaftlichen Mitarbeiter·innen. Diese haben ganz besonders unter dem sogenannten Hochschulzeitvertragsgesetz zu leiden, das ihren Karrieren harte und arbiträre Jahresgrenzen setzt. Gut gemeint war es zur Unterbindung endloser Kettenverträge, aber gut gemeint ist auch hier das Gegenteil von gut. Der Versuch, die Universitäten als Arbeitgeberinnen nach Ablauf einer nicht verhandelbaren Frist zur Verstetigung zu zwingen, führte zumeist dazu, dass auf das Nicht-Erreichen dieses Scheidemoments peinlich genau geachtet wurde und wird.
Doch die deutsche Universität hat ihre charakteristische Vorliebe für die Befristung sowohl in die Breite – nie zuvor gab es so viele befristet beschäftigte Wissenschaftler·innen im Universitätssystem, man spricht von 90% (wobei allerdings die nunmehr von Stipendien auf Stellen gewechselten Doktorand·innen mitgezählt sind) – als auch in die Höhe ausgebaut. Längst ist die Befristung in den Bereich der Professuren vorgedrungen. Nicht mehr nur Juniorprofessuren, sondern auch W2-Stellen werden auf Zeit besetzt. Und Tenure track, das nun weithin favorisierte Laufbahnmodell, sieht keineswegs die Garantie der Entfristung vor, daher wiederum letztlich nichts anderes als: Befristung.
Woher kommt dieser Kult der Befristung?
Woher die Überzeugung, Personen, die bereits ein langwieriges und hürdenreiches Qualifikationssystem durchlaufen haben, immer weiter auf Eignung prüfen zu müssen?
Zwar ist heute eine nie dagewesene Zahl von Wissenschaftler·innen von Befristung betroffen, doch ist das Prinzip bereits mit der Humboldt’schen Universitätsidee am Beginn des 19. Jahrhunderts grundgelegt worden. Die unproportionale Verlängerung der Bewährungszeit wurde erfunden, als es noch keine Massen von Aspiranten umzudirigieren und in Wartestellung zu halten galt. Sie ist daher kein gänzlich rationales Verfahren, vielmehr hat sich an genau dieser Stelle das universitäre Unbewusste, also die im Sinne von Bourdieus Formulierung vom ‚inconscient d’école‘ unausgesprochenen und unreflektierten Tiefenschichten der Institution, Pierre Bourdieu, „L’inconscient d’école“, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 135 (2000), S. 3–5. von Anbeginn an manifestiert. Verkörpert hat es sich zunächst in einer Figur: dem Privatdozenten. Ich erzähle diese Geschichte als eine radikal gegenderte und verwende daher für die historische Rekonstruktion ausschließlich die männliche Form: Die Universität gründet sich auf den Ausschluss der Frau, mithin betreffen ihre konstitutiven Operationen die Organisation der homosozialen Binnenhierarchie.
Der deutsche Privatdozent betrat im Jahr 1816 die akademische Bühne, als die Statuten für die neu zu gründende Berliner Universität erstmals die Habilitation als formalisiertes Qualifikationsverfahren für Hochschullehrer vorsahen. Anders als seine Erfinder glauben machen wollten, wurde damit keine Tradition fortgesetzt. Unter Beratung Friedrich Schleiermachers und Federführung Wilhelm von Humboldts beanspruchte man, die ‚altehrwürdigen‘ Muster der mittelalterlichen deutschen Universität fortzuführen. Den Privatdozenten meinte man so mit einer Langfristtradition versehen und als Transferprodukt konturieren zu können. Allerdings saßen die Gründerväter der modernen Universität hier einem Homonym auf, denn praeceptores privati waren keineswegs in Stellung und Rang Äquivalent des Privatdozenten, sondern in der Regel Magister der philosophischen Fakultät. Diese boten gleichsam Nachhilfe vor allem in lateinischer Grammatik an, damit die im Vergleich zu später noch sehr jungen Studenten überhaupt den Vorlesungen folgen und an Disputationen teilnehmen konnten.
Auch wenn also der Titel des Privatdozenten eine Kontinuität lang etablierter Stellentypen suggeriert, wurde die Position inhaltlich und formal gänzlich neu bestimmt: „Privatdozent heißt von jetzt an allein“, so formulierte der Universitätshistoriker Ewald Horn bereits 1901, „auf eine Professur aspirieren.“ Ewald Horn, „Zur Geschichte des Privatdozenten“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 11 (1901), S. 26–70, hier S. 57. Die Einführung der Habilitation zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Qualifikationsnachweis und Voraussetzung für die Berufbarkeit auf Professuren implizierte Anforderungen, die sich radikal von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gepflogenheiten unterschieden – bei gleichzeitiger Kontinuitätsbehauptung.
Eine bis dahin ungekannte Normierung und Steuerung des Zugangs zur Professur wurde mit teils kaum rationalisierbaren Kriterien verbunden.
Dabei sieht das Konzept auf den ersten Blick zukunftsweisend aus: Habilitiert wurde man für den Kompetenzerweis in einem klar bestimmbaren ‚Fach‘. Während man noch im 18. Jahrhundert über eine Addition von Lehrstühlen in hierarchisch geordneten Fächern Karriere machte (und gar nicht so selten den Lehrstuhl des Vaters oder Schwiegervaters übernahm), war nun disziplinäre Spezialisierung verlangt. Die disziplinäre Verengung sollte einhergehen mit der Honorierung von herausragender Forschungsleistung. Doch der Selektionsprozess wurde zugleich explizit als auf die Lehre ausgerichtet dargestellt. Mit der Habilitation erwirbt man – immer noch – die Lehrbefugnis. Forschung dagegen wurde als charismatischer Akt bestimmt und wissenschaftlicher Erfolg als Konsequenz außerordentlicher, regelfremder, letztlich nicht erlernbarer Begabung.
Institutionelle Traditionsbehauptung wird verknüpft mit einer Rhetorik des Bruchs: Der Privatdozent sei es, von dem originelle, das jeweilige Fach wenn nicht revolutionierende, so es doch maßgeblich transformierende Beiträge zu erwarten seien. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Praxis des Habilitationsverfahrens selbst diese Programmatik von Beginn an unterminiert. Von Anfang an beruhte die Habilitation gerade nicht auf einer außergewöhnlichen und genialen Individualleistung, sondern auf einer zeitintensiven, hoch normierten Demonstration professioneller Qualifikation – und Opferbereitschaft. Die Habilitation erlangte und erlangt man nicht durch Inspiration, sondern durch Transpiration – durch Jahre kontinuierlicher, entbehrungsreicher und systematischer Arbeit.
Von vornherein erscheint es widersinnig, dass eine traditionale Institution wie die Universität ihre Reproduktion auf genialische und alle Regeln und Traditionen sprengende Innovationsleistungen abstellen sollte. Die Selbsterneuerung des ‚lebenden Organismus Universität‘ – so eine oft zu lesende Formulierung – impliziert doch vielmehr, dass mehr oder weniger Identisches nachgebildet werden muss. S. dazu, wie auf Kontinuität gepolten Institutionen Wandel gleichsam unterläuft, den Band 1 der Buchreihe des SFB 980: Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer, hg. von Eva Cancik-Kirschbaum und Anita Traninger, Wiesbaden: Harrassowitz 2015 (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte 1). Umso bemerkenswerter ist es, dass heute noch immer das intellektuelle Wagnis auch von außeruniversitären Fördergebern gerade dem sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs aufgetragen wird.
Gerade diejenigen, die sich gegen die Prekarität stemmen müssen, sollen sich besonders risikobehafteten Projekten verschreiben.
Mit Abschluss des Habilitationsverfahrens geht die entbehrungsreiche Zeit nach dem Willen der modernen Universität freilich nicht zu Ende, im Gegenteil. Privatdozenten werden danach nicht etwa auf Stellen gesetzt wie die französischen maîtres de conférences, nein, sie werden vielmehr mit Absicht „unauskömmlich gestellt.“ Alexander Busch, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universität, Stuttgart: Enke 1959, S. 52. Mit der Position ist kein Gehalt verknüpft, und mehr noch: Um ihren Titel nicht zu verlieren, müssen Privatdozenten unentgeltlich lehren.
Die Unbesoldetheit des Privatdozenten scheint zunächst eine Rekrutierungsabsicht aus den Oberschichten nahezulegen, eine Selbstergänzung der Universität aus den gesellschaftlichen Eliten – und in Verbindung damit ein Protokoll des Ein- und Ausschlusses, das nach sozialer Herkunft und nicht nach akademischer Eignung funktioniert. Doch während nach wie vor die Universität unproportional viele Akademikerkinder aufnimmt, ist die Habilitation umgekehrt geeignet, de facto ein akademisches Proletariat selbst zu kreieren. So urteilte zumindest der französische Soziologe Émile Durkheim, der 1885 nach Berlin und Leipzig reiste, um die deutschen Universitäten im Zuge einer fact finding mission hinsichtlich ihres Beitrags zur militärischen Überlegenheit Deutschlands zu studieren. Was er ebenso erstaunt wie erschüttert vorfand, war „un véritable prolétariat“, das sich mit eisernem Willen und unerbittlichem Glauben an den Beruf als Berufung durchbiss. Emile Durkheim, „La philosophie dans les universités allemandes (1887)“, in: Emile Durkheim, Textes. Bd. 3. Fonctions sociales et institutions, Paris: Éditions de Minuit 1975, S. 437–486, hier S. 443.
Nutznießer einer solchen Insistenz auf Berufung und Willenskraft war und ist dabei ganz klar eine Gruppe: jene der Professoren. Indem der Privatdozent das charismatische Berufensein verkörpert, das trotz aller materiellen Misere die Hingabe an die wissenschaftliche Tätigkeit einfordert, weist er das Professorenamt, das allein über das Durchhalten des Prekariats erreichbar ist, als charismatischen Kristallisationspunkt der Institution erst aus. Der wohlbestallte Professor wird damit als gerechtfertigter Amtsinhaber markiert, der selbst durch ein Opfer seine Position erreicht hat. Niedrige Motive – die Attraktivität des Professorengehalts oder der Distinktionsgewinn des Titels – werden symbolisch ausgeschlossen, indem die interesselose Selbstverpflichtung auf die Wissenschaft an der Systemstelle des Privatdozenten verankert wird. Denn bezeichnenderweise reduziert die symbolische und materielle Misere, die das Privatdozententum kennzeichnet, in keiner Weise das Charisma der Professur. Vielmehr steht sie ein für ein Desinteresse der Bildungselite an materiellen Werten. Allein um der Sache willen dränge diese in die akademischen Ränge.
Der Privatdozent wurde aber nicht zuletzt unauskömmlich gestellt, um die Familiengründung zu unterbinden. In der heutigen, in die Breite angeschwollenen Befristungskultur findet dies ein Echo in dem unbedingten Mobilitätsgebot, Kürzestverträgen, die jede Planung verunmöglichen, aber auch einem Arbeitspensum, das Betreuungspflichten entgegensteht. Die alte Idee dahinter: Allein die Distanzierung vom Alltags-, insbesondere aber vom Familienleben ermögliche das Gelehrtendasein – „Einsamkeit und Freiheit“, der Schlachtruf des Humboldt’schen Universitätsideals, ist durchaus gegendert. Garantiert wurde es allein durch die homosoziale Organisation des Gelehrtentums. Die Unbesoldetheit des Privatdozenten scheint den Zölibat der mittelalterlichen Magister mit den Mitteln der modernen Ökonomie zu reproduzieren. Nachdem ab dem 15. Jahrhundert die seit der Institutionalisierung der Universitäten verbindlichen Eheverbote nach und nach aufgehoben wurden, setzte nicht etwa eine begeisterte Hinwendung zum Familienleben ein. Die Mann-Frau-Beziehung übersetzte sich vielmehr in eine – so formuliert es der Historiker Gadi Algazi „täglich und intim erlebte Spannung zwischen Arbeitszimmer und Küche, männlichen Gelehrten und ihren Hausfrauen.“ Gadi Algazi, „Eine gelernte Lebensweise: Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und früher Neuzeit“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 107–118, hier S. 114. Ungeachtet der Verabschiedung zölibatärer Arrangements bleibt die Frau lange Zeit das vermeintliche Hemmnis der Forschung, das Andere der Wissenschaft. Dass der Begriff des Privaten im 19. Jahrhundert untrennbar mit der häuslichen Sphäre und dem Wirkungsraum der Frau verknüpft war, stellt eine besondere Perfidie in der Erfindung des Privatdozenten dar, war doch genau ihm dieses bürgerliche Privatleben absichtlich ökonomisch außer Reichweite gestellt worden.
Es ist die Frau, die vermittels der Habilitation einen doppelten Ausschluss erfährt.
Zum einen zementiert die Habilitation zum Zeitpunkt ihrer Erfindung, aber klar auch darüber hinaus, die exklusiv männliche akademische Reproduktion. Die Bildungsinstitutionen (nicht nur) des Abendlandes konstituierten sich über den systematischen und nachhaltigen Ausschluss der Frau, und auch Strukturmaßnahmen zur Implementierung einer neuen Universitätsidee hielten an dieser Ausschlussbewegung überzeugt und wie selbstverständlich fest. Zum anderen markiert das zölibatäre Idealbild des Privatdozenten des 19. Jahrhunderts die Frau als den Negativpol der Wissenschaft, der auch aus der Privatbeziehung mit allen damit einhergehenden Verpflichtungen im Dienste der Forschung zu eskamotieren sei. Diesen Aspekt diskutiere ich ausführlich in Anita Traninger, „Das Geschlecht der Habilitation“, in: Wie kommt das Neue in die Welt? – Emmy Noether, die Noether-Theoreme und die moderne Algebra, hg. von Mechthild Koreuber, Berlin: Springer 2021 (Mathematik im Kontext). Vor diesem Hintergrund inszeniert sich die Universität in Teilen immer noch als eine gespenstische Familienaufstellung ohne Frauen, in der ‚Doktorväter‘ (die ‚Doktormutter‘ hat sich aus Gründen nie so recht durchgesetzt) einen nie erwachsen werdenden ‚Nachwuchs‘ unter sich haben.
Die Frau ist mittlerweile faktisch dennoch, wenn auch in deutlicher Minderheit, im Wissenschaftssystem angekommen. Frauen, die man lange draußen zu halten vermochte, sind nun ein Faktum im System. Dieses verschiebt sie nun allerdings in großer Zahl dorthin, wo es den unbequemsten Warteplatz geschaffen hat: auf die Aspirationsstelle. Die mit besten Absichten geschaffenen Juniorprofessuren ebenso wie die W2-Professuren auf Zeit zur Frauenförderung haben die Befristung in das Feld der Professuren getragen. In der unbequemen Wartehalle antichambrieren jetzt vor allem – Frauen. Auf die Gegendertheit des Befristungskomplexes, der in der Debatte kaum figuriert, wird immer wieder, aber doch zu wenig hingewiesen. S. z.B. Heike Mauer, „Die Chancen auf eine Hochschulkarriere sind ungleich verteilt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.06.2019). Denn in der Tat: Die W3-Professur ist die letzte Bastion des Unbefristeten, und es ist kein Zufall, dass diese Stellen mit großer Mehrheit mit Männern besetzt sind.
Nachdem die Habilitation den höchstrangigen Hoheitsbereich der Universität im Hinblick auf ihre Personalentwicklung darstellt – den Ruf auf eine Professur spricht nicht die Universität selbst, sondern die Landesbehörde aus –, ist es nur folgerichtig, dass sich dort die zentralen Phantasmata von deren Selbst- und Wissenschaftsverständnis verdichten und ausdrücken. Ihre Mechanismen haben sich auf die Mehrzahl der Beschäftigungsverhältnisse übersetzt. Angesichts des Stellenaufwuchses, der vor allem über Drittmittelprojekte erfolgte, ist klar, dass jede im Bereich des Möglichen angesiedelte Zahl von unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen angesichts der Menge der Aspirierenden immer noch nicht genug wäre, um alle Qualifizierten im System zu halten. Und dennoch: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Komplex von fortgesetzten Prüfungen und Unterwerfungsanforderungen, der sich in der Befristung ausdrückt, auf etwas anderes als auf reine Qualifikationsfeststellung abzielt.
Anita Traninger ist Professorin für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin.