Am Sieben-Schmerzen-Altar in Kalkar – einem Meisterwerk der Bildschnitzkunst – ist prominent platziert die Sibylle zu sehen, die Kaiser Augustus laut Legende die Vision einer Jungfrau mit Kind am Himmel zeigte. Welche Rolle spielt die Weissagerin hier? Was hat es mit den Flügeln an ihrem Kopf auf sich?

Neben zahlreichen biblischen Figuren erscheint an einem Altarretabel des 16. Jahrhunderts in Kalkar am Niederrhein eine aufwendig gestaltete Sibylle. Die traditionsreiche antik-pagane Weissagerin ist hier nicht nur außerordentlich kunstvoll geschnitzt und großformatig im Gesprenge an einem wichtigen Ort positioniert, sondern trägt zudem – was unüblich ist – gefiederte Flügel am Kopf. Der Altar der Sieben Schmerzen Mariens, an dem sie zu finden ist, wurde zwischen 1518 und 1521 von Henrik Douverman in Eichenholz geschnitzt und 1522 vom Kölner Erzbischof geweiht. Er ragt mit einer Höhe von über sieben Metern in der katholischen Kirche St. Nicolai empor (Abb. 1). Zu St. Nicolai in Kalkar siehe Guido de Werd, St. Nicolaikirche Kalkar, Berlin/München 2016²; Hans Peter Hilger, Stadtpfarrkirche St. Nicolai in Kalkar, Kleve 1990; zu Douverman siehe Barbara Rommé, Henrick Douverman und die niederrheinische Bildschnitzkunst an der Wende zur Neuzeit, Bielefeld 1997.

Fotografie des über 7 Meter hohen Altars der Sieben Schmerzen Mariens, aus Eichenholz geschnitzt.
Abb. 1: Henrik Douverman, Sieben-Schmerzen-Altar, Eichenholz, holzsichtig bis auf die farbige Fassung der Kreuze, 1518–1521, St. Nicolai, Kalkar.

Ursprünglich war das Retabel im engen Nordchor aufgestellt (Abb. 2); seit 1899 befindet es sich im Südchor. Zu den Umgestaltungen des Kirchenraums siehe weiter de Werd 2016², S. 34–43, 93–99; Hilger 1990, S. 44; die Altarflügel sind erst 1546 hinzugefügt und 1635 bemalt worden. St. Nicolai ist mit seinen zahlreichen Schnitzaltären aus dem 15. und 16. Jahrhundert wahrlich ein kunsthistorisches Kleinod und – wie etwa auch Karl Friedrich Schinkel befand – unbedingt eine Reise wert (Abb. 3). De Werd 2016², S. 10f.; Hilger 1990, S. 105. 1550 befanden sich 17 Altäre in der Kirche, zehn sind noch heute erhalten.

Die Kirche blieb vom Bildersturm Mitte des 16. Jahrhunderts verschont. Daher ist ihre Ausstattung eine äußerst wertvolle und erhellende Spur „eines nicht mehr absehbaren Bestandes […], mit dem sie thematisch, ikonographisch und stilistisch verflochten gewesen ist“. Hilger 1990, S. 47f. Derartige Verflechtungen – insbesondere mit niederländischer Kunst und Kultur – werden im Folgenden anhand der Sibyllenfigur als wissensgeschichtlichem Fundstück erörtert.

Sibyllen gelten als göttlich begnadete Seherinnen vorchristlicher Zeiten. Siehe zu den Sibyllen generell Wolfgang Augustyn, Die Sibyllen. Zu einem antiken Thema in der Kunst des Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., Passau 2019; Anne Eusterschulte und Ulrike Schneider, „Sibyllen & Propheten: Wissen in Mikrokonstellationen. Die Fresken der Chigi-Kapelle in Santa Maria della Pace in Rom“, in: Logbuch Wissensgeschichte (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte 36), hg. v. Mira Becker-Sawatzky, Şirin Dadaş, Anne Eusterschulte, Kristiane Hasselmann, Andrew James Johnston, Falk Quenstedt, Claudia Reufer, Hanna Zoe Trauer, Christian Vogel, Katrin Wächter u. Helge Wendt, Wiesbaden 2024, S. 587–617; Finn Schulze-Feldmann, Reforming Sibyls. Change in Religious Belief and the Sibylline Tradition between the Middle Ages and the Early Modern Period, London 2018; Christian Jostmann, „Das Schweigen der Sibyllen“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, I/4 (2007), S. 85–96. Ihr Kult wurzelt vermutlich im vorderasiatischen Raum und lässt sich etwa seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. in ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionszusammenhängen nachweisen. Bildkünstlerische Darstellungen von einer oder mehreren Sibylle(n) sind seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. erhalten. Aufgrund der vielfältig verzweigten Überlieferungsgeschichte waren die Sibyllen und mit ihnen ihre Weissagungstexte in stetem Wandel. Seit der Spätantike, maßgeblich seit Laktanz’ Auseinandersetzung mit den von Varro katalogisierten zehn Sibyllen in den Divinae institutiones (um 300 n. Chr.), wurden sie in christlich-religiösen Kontexten oftmals dort, „wo die grundsätzliche Vereinbarkeit christlicher Überlieferung mit antiker Bildung und Weisheit nicht angezweifelt wurde“ Wolfgang Augustyn, „Die Prophetinnen der Heiden. Zur ikonographischen Tradition der Sibyllen zwischen Süd und Nord“, in: Artisti e mercanti in viaggio. Oltre le alpi, attraverso il Tirolo, hg. v. Lucia Longo, Bologna 2020, S. 187–202, hier S. 190., zu heidnischen Prophetinnen christlicher Heilsgeschichte ausgestaltet. Der Zehner-Katalog umfasst die Persische, Libysche, Delphische, Cimmerische, Erythräische, Samische, Cumaeische, Hellespontische, Phrygische und Tiburtinische Sibylle. Die Gruppengröße variiert in der Sibyllentradition allerdings stark und ist gerade im ausgehenden 15. und Verlauf des 16. Jahrhunderts in Analogie zu den 12 Aposteln oder auch Propheten auf 12 erhöht worden. Siehe Mira Becker-Sawatzky, „Sibyllen und ihr Gegenüber in der Buchmalerei Berthold Furtmeyrs. Wissenspaarungen & Medienreflexionen mit Gold, Farben und Pergament“, in: Wissenspaarungen (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte), hg. v. Anne Eusterschulte u. Ulrike Schneider, Wiesbaden (im Erscheinen). Die Jungfräulichkeit der Sibyllen war dabei „die Voraussetzung für ihre Vereinigung mit der Gottheit und blieb bis ins 17. Jahrhundert die gängige theologische Erklärung für ihre prophetische Kraft“ Bettina Hülsmann, „Sibylle“, in: Verführer, Schurken, Magier, hg. v. Ulrich Müller, St. Gallen 2001, S. 877–901, hier S. 882.. Im Kontext spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Marienkults wurden sie auch als Vor-Ahninnen der jungfräulichen Gottesmutter Maria konfiguriert. Zu Sibylle(n) als Vor-Ahnin(nen) Marias hinsichtlich ihrer Weissagungen der den Weltherrscher gebärenden Jungfrau, aber ebenso im Sinne einer spirituell-geistigen Genealogie und typologischen Verbindung siehe Becker-Sawatzky (im Erscheinen). Dabei galten sie – wie in Giovanni Boccaccios weitverbreitetem Werk De claris mulieribus (1360–1362) – als besonders vorbildhafte und als die von Gott am meisten verehrten paganen Frauen, die ihre durch den Heiligen Geist eingehauchten prophetischen Einsichten klarer und deutlicher offenbarten als die Propheten. Siehe z. B. die deutschsprachige Ausgabe Ende des 15. Jahrhunderts: Giovanni Boccaccio, De claris mulieribus. Von etlichen frowen, übers. v. Heinrich Steinhöwel, Ulm: Johann Zainer 1473, hier f. 26v–27r; das Digitalisat eines Exemplars dieser Ausgabe ist hier abrufbar (zuletzt eingesehen am 3.9.25). Im europäischen 15. und 16. Jahrhundert waren sie dann sowohl in den Bildkünsten als auch in Dichtung, Legenden, Mysterienspielen sowie liturgischen Gesängen von zunehmend großem Interesse und Aktualität.

Die aufmerksame Betrachtung und Kontextualisierung von Douvermans Sibylle in Kalkar wird zeigen, dass sie nicht allein auffallend aufwendig sowie kunstvoll geschnitzt ist, sondern mit eigenwilligen, Neugier weckenden Details ausgestattet ist, deren Anspielungsreichtum nachgegangen wird. Dabei werden sowohl ein origineller und kundiger Umgang mit ikonographischen Traditionen als auch Reflexionen zum künstlerischen Selbstverständnis des Bildschnitzers anschaulich und nachvollziehbar werden.

Insgesamt beeindruckt der Sieben-Schmerzen-Altar durch filigrane und meisterhaft aus dem harten, schwierig zu bearbeitenden Eichenholz hervorgebrachte Schwünge, Formen und Tiefendimensionen. Zudem ist er holzsichtig gestaltet. Das ursprüngliche mittelalterliche, heute verlorene und ersetzte Vesperbild im Mittelschrein war allerdings farbig gefasst. Zur Verknüpfung von Pietà und Retabel waren daher die darüber verorteten drei Kreuze der Kreuzigung auch mit Gold und Farbe gefasst. Siehe de Werd 20162, S. 93, 99; Hilger 1990, S. 49. Mit der Materialsichtigkeit entstehen eindrucksvolle Licht- und Schattenwirkungen und es lassen sich differenzierende Oberflächengestaltungen mit u. a. Punzierungen und Einritzungen vor Augen führen. Zur Materialsichtigkeit von Skulptur siehe generell Magdalena Bushart und Andreas Huth, Superficies. Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/Köln 2022; Eike Oellermann, „Polychrome or Not? That is the Question“, in: Tilman Riemenschneider, c. 1460–1531, hg. v. Julien Chapuis, New Haven/London 2004, S. 113–123.

Bildprogramm

Im Mittelschrein des Altares befindet sich eine ehemals mittelalterliche, später ersetzte Skulpturengruppe der Marienklage (auch Pietà oder Vesperbild genannt). Um sie herum sind von Douverman geschnitzt die Szenen der für Maria als Mutter so schmerzhaften sieben Ereignisse aus dem Leben Jesu dargestellt. Die Verehrung der sieben Schmerzen Mariens fand ausgehend von Frömmigkeitsbewegungen in den burgundischen Niederlanden auch in dem mit dem Burgund eng verbundenen Herzogtum Kleve, zu dem Kalkar gehörte, Verbreitung. Prägend waren v. a. der Theologe Johannes van Coudenberg, seine Bruderschaft der Sieben Schmerzen Mariens und sein gleichnamiger Traktat. Siehe u. a. Hilger 1990, S. 150; Rommé 1997, S. 113–118. Unten rechts ist die Darstellung Christi im Tempel zu sehen, während der Simeon Maria offenbarte: „und auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen“ (Lk 2, 34–35). De Werd 2016², S. 95f. Ein Loch in der Brust jeder einzelnen Marienfigur des Kalkarer Altars zeugt davon, dass ursprünglich in jeder Szene ein Schwert Mariens Brust durchbohrte. Darauf folgen im Uhrzeigersinn die Flucht nach Ägypten und die Szene von Jesus unter den Schriftgelehrten im Tempel, als Maria ihn in Jerusalem verloren glaubte; daran schließen die Begegnung mit Jesus auf dem Kreuzweg sowie seine Kreuzigung, Kreuzabnahme und Grablegung an. Umrankt werden die Szenen von der alttestamentlichen Wurzel Jesse (Jes. 11, 1) und ihren Trieben, die hier ins Eichenholz geschnitzt Gestalt angenommen haben. Sie wachsen ausgehend von der Figur des schlafenden Jesse in der Predella empor. In ihrem blattreichen Geäst klettern die genealogischen Vorfahren Christi bis hinauf zum Altargesprenge. Dort spitzt sich das hohe und schmale Retabel in drei Bögen zu (Abb. 4):

Fotografie des oberen Teils des Altars der Sieben Schmerzen Mariens, aus Eichenholz geschnitzt.
Abb. 4: Detail aus Abb. 1.

Auf dem höchsten Bogen in der Mitte steht Maria mit dem Jesuskind als apokalyptisches Weib auf der Mondsichel, von der Sonne bekleidet und umgeben von musizierenden und Weihrauchfässer schwenkenden Engeln. Auf den sie flankierenden, etwas niedrigeren Spitzbögen ist links das aus der ara-coeli-Legende bekannte Zusammentreffen von Sibylle und Octavian-Augustus zu sehen, bei dem die Seherin dem Kaiser die Vision des von der Jungfrau geborenen Kindes und zukünftigen Weltenherrschers zeigt und deutet.

Die ara-coeli-Legende ist im 15. und 16. Jahrhundert insbesondere aus der populären und auch in vielen Volkssprachen verbreiteten Legenda aurea sowie dem typologisch angelegten Heilsspiegel als Präfiguration der Geburt Christi weithin bekannt. Hier wird die Version aus der Legenda aurea referiert. Siehe Jacobus de Voragine, Die Legenda aurea, übersetzt v. Richard Benz, Heidelberg 1984 (10. Auflage), Kapitel von der Geburt des Herrn, S. 49–53; für ein mittelalterliches Exemplar siehe z. B. hier (zuletzt eingesehen am 3.9.25). Zu Überlieferung, Einfluss, Popularität und bildkünstlerischen Darstellungen der Legende siehe u. a. Schulze-Feldmann 2018, S. 49–74; Augustyn 2019, S. 689–866. Sie besagt, dass Kaiser Augustus am Tag der Geburt des Herrn, sprich zur Weihnacht, die weissagende Sibylle in seinen römischen Palast kommen ließ und sie um Rat bat, da die Senatoren ihn aufgrund seiner weitreichenden und friedensreichen Herrschaft als Gott verehren wollten. Die Sibylle der ara-coeli-Legende wird im vorliegenden historischen Zusammenhang zumeist schlicht als Sibylla/sibilla bezeichnet, bisweilen auch als Tiburtinische Sibylle/Tiburtina – dies aber v. a. in der Forschung. Nach einer Bedenkzeit habe die Sibylle dem irdischen Herrscher eine Vision gezeigt, die am sich plötzlich öffnenden Himmel zur Mittagszeit sichtbar wurde: eine von strahlendem Licht umgebene allerschönste Jungfrau mit einem Kind auf dem Arm über einem Altar. Eine Stimme habe verlauten lassen: ‚dies ist ein Altar des Himmels (ara coeli)‘. Die Sibylle habe dem Kaiser prophezeit, dass dieses Kind mächtiger sein werde als alle anderen und eben diesem Kind und nicht ihm göttliche Anbetung gebühre. Der Kaiser betete daraufhin das Kind an. Am Ort der Vision auf dem Kapitolsplatz in Rom wurde später die Kirche Sancta Maria in ara coeli erbaut. Die Reaktion des Kaisers, aber auch die Gründung der Kirche demonstrieren, dass Visionen wie jene der Sibylle im vorliegenden historischen Zusammenhang große Autorität besaßen und für wahr gehalten wurden. Zur Authentizität von Visionen, insbesondere der ara-coeli-Legende, siehe Thomas Blisniewski, „Kaiser Augustus und die Sibylle von Tibur. Ein Bildmotiv des Meisters der Verherrlichung Mariae im Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corboud“, in: Kölner Museums-Bulletin (2005), S. 13–26, hier S. 24.

Bei der aufmerksamen Betrachtung und Kontextualisierung von Douvermans Sibylle in Kalkar werden sowohl ein origineller und kundiger Umgang mit ikonographischen Traditionen als auch Reflexionen zum künstlerischen Selbstverständnis des Bildschnitzers anschaulich und nachvollziehbar.

An Douvermans Retabel steht die Sibylle mit nach oben gerichtetem Blick und hochgestrecktem linken Arm und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind; ihr Mund ist leicht geöffnet, die Lippen sind gespitzt, sie spricht (Abb. 5).

Ausschnitt Fotografie der hölzernen Sibyllenfigur am Sieben-Schmerzen-Altar von Henrik Douverman
Abb. 5: Detail aus Abb. 1.

Mit ihrer rechten Hand fasst sie Augustus an der Schulter und lenkt mit Zeigegestus, Berührung und Sprache dessen Aufmerksamkeit – sowie jene der Betrachtenden vor dem Altar – auf die Vision. Der Kaiser ist in Anbetung von Mutter und Kind auf die Knie gefallen – Kopf, Blick und gefaltete Hände hat er zu Maria und Jesus erhoben, seine Bügelkrone am Boden abgelegt. Der lange gedrehte Bart und tiefe Ansatz seines lockigen Haares markieren ihn als älteren Mann. Er trägt ein langes Gewand und einen langen Umhang mit dezenter Zier an Ärmelsaum und Kragen.

Augustus ist der pagane Herrscher, der im Lukasevangelium zu Beginn der Weihnachtsgeschichte (Lk 2, 1) erwähnt wird und im Rahmen der Rezeption und Aktualisierung der ara-coeli-Legende im 16. Jahrhundert als „Inbegriff herrscherlicher Würde und Tugend“ und „Vorbild eines christlichen Fürsten“ in Anspruch genommen wurde. Augustuyn 2019, S. 753. Er ist es auch, der Erzählungen nach die Sibyllinischen Bücher auf dem Kapitol zur Sicherung in den neu erbauten Tempel des Apolls hatte überbringen lassen. Siehe Anna Magnago Lampugnani, Furor. Vorstellungen künstlerischer Eingebung in der Frühen Neuzeit, München 2020, S. 30. Für die Rheinregion, in der Douvermans Altar entstanden ist, war er außerdem regionalgeschichtlich bedeutsam, hatte er doch seinerzeit das römische Köln gegründet, die Stadt im Mittelpunkt des Kultes der Roma und des Augustus in Germanien. Siehe Thomas Otten, Dirk Schmitz und Marcus Trier, „Köln – Rom am Rhein“, in: Roms fließende Grenzen, hg. v. Erich Claßen u. a., 2021, S. 28–29.

Im Vergleich zur Kleidung des Kaisers ist die Kleidung der Sibylle auffällig detailreich und meisterhaft geschnitzt. Die Ärmel sind nach der zeitgenössischen Mode des Adels geschlitzt, gepufft und gerafft, das Kleid gegürtet. Darunter trägt die jungfräuliche Weissagerin eine faltenreiche, hochgeschlossene Bluse, darüber eine Kette. Auf ihrem Kopf sitzt eine scharfkantig gefaltete Haube, wie sie in zahlreichen Frauenporträts der Zeit und Region zu finden ist. Siehe bspw. Porträts adliger Frauen von Joos van Cleve oder auch die nach zeitgenössischer Mode gekleidete Frau in der Auferweckung Lazarus‘ an den Flügeln des Hochaltars von St. Nicolai, der mit Kryptoportäts der Liebfrauenbruderschaft und der Darstellung des Kalkarer Rathauses mehrere Referenzen auf den zeitgenössischen Kontext aufweist. Siehe John Hand und Micha Leeflang, „Das Leben Joos van Cleves. Warum er in Vergessenheit geriet und wie er wiederentdeckt wurde“, in: Joos van Cleve. Leonardo des Nordens, hg. v. Peter van den Brink, Ausst.kat., Stuttgart 2011, S. 20–29, hier S. 21. Auf dieser Haube sitzt eine Art Diadem oder Haaraufsatz mit von zeitgenössischen Kleidern her bekannten ornamentalen, kugelförmigen, in Dreiecken sowie blütenartig angeordneten Applikationen. Adlige Frauen der Region trugen damals durchaus kostbare ‚Aufsätze‘ im Haar bzw. auf den Hauben, „Drahtgestelle, die entweder mit Perlen oder mit Blumen aus Gold, Edelsteinen oder Glas verziert waren“. Monica Kurzel-Runtscheiner, Glanzvolles Elend. Die Inventare der Herzogin Jacobe von Jülich-Kleve-Berg (1558–1597) und die Bedeutung von Luxusgütern für die höfische Frau des 16. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 1993, S. 92f. Auf Höhe der Ohren allerdings befindet sich eine Blüte, aus der heraus ungewöhnlicherweise Flügel ragen und den Kopfschmuck gewissermaßen zu einer außergewöhnlichen geflügelten Krone werden lassen. Die Flügel sind nicht abstrakt-ornamental, sondern gefiedert. Sie haben etwa die Länge von Sibylles Oberarm, ragen nach hinten und sind quasi ein Pendant en miniature zu den großen Flügeln des Engels, der gegenüber auf dem rechten Spitzbogen steht (Abb. 6).

Ausschnitt Fotografie des hölzernen Engels am Sieben-Schmerzen-Altar von Henrik Douverman
Abb. 6: Detail aus Abb. 1.

Es ist die Figur des Engels, der laut dem Buch der Offenbarung (Offb. 1) Johannes auf Patmos erscheint. Leicht nach vorn gebeugt weist er mit dem Segensgestus seiner rechten Hand auf die auf der Mondsichel stehende Gottesmutter hin, blickt dabei in Richtung Johannes und führt diesen mit der Linken in Richtung Marienerscheinung. Johannes kniet mit einem großen aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß und schreibt seine Vision des apokalyptischen Weibes nieder (Offb. 12). Beide sind in faltenreichen, aber ansonsten schlichten Gewändern gekleidet.

Die Figurenpaare im Gesprenge sind im Vergleich zu den übrigen Figuren des Retabels großformatiger und auch mit etwas Abstand vor dem Altar stehend gut in ihrer detailreichen Ausgestaltung zu erkennen. Ihre besondere Stellung wird zudem im Verlauf der Messe hervorgehoben, wenn die im Gebet seitlich erhobenen Arme und nach oben weisenden Hände des Priesters auf die Figurenpaare links und rechts von Maria weisen, die dann weiter zur Gottesmutter leiten. Noch heute wird immer freitagmorgens vor dem Sieben-Schmerzen-Altar die Pest-Messe abgehalten, in der für alle Kranken und alle Pflegenden gebetet wird. Seit 1510 gibt es in St. Nicolai eine Skulptur des Heiligen Rochus, die seitdem jährlich im Zuge einer Prozession im August durch Kalkar getragen wird. Die geflügelte Sibylle, auf die am ursprünglichen Standort im Nordchor direkt von links durch das nach Norden gelegene Fenster Licht einfiel, sowie der geflügelte Engel lenken den Fokus auf Maria und ihr Kind und bereichern durch die mit ihnen aufgerufenen Visionen und Narrationen die Betrachtung und Anbetung der Gottesmutter. Die beiden Visionen sind hier in einer Figur, der Maria mit Kind als apokalyptischem Weib, konfiguriert, was sich gut mit der Vision der ara-coeli-Legende vor der Mittagssonne sowie generell einer Sibyllenfigur vereinbaren lässt, ist doch in zahlreichen sibyllinischen Weissagungen auch apokalyptisches Denken verankert. Siehe Blisniewski 2005, S. 24; Werner Grebe (Hg.), Sibyllen Weissagung. Faksimileausgabe des Volksbuches um 1525. Mit Einführung, Übersetzung und Anmerkungen, Köln 1989.

Mit den Flügeln am Haupt der Sibylle, den Flügeln des Engels der Offenbarung und jenen der kleineren Engel in den oberen Registern ergibt sich um Maria und Kind ein regelrechtes Auffächern von Flügeln, von Federn, von Windhauch-Implikationen, von Leichtigkeit, von Beweglichkeit zwischen Irdischem und Überirdischem. Für die Engel sind die Flügel Standard, für die Sibylle jedoch Ausnahme. Lassen sich, wie noch gezeigt wird, vereinzelt bzw. in einem bestimmten Zirkel künstlerischen Austauschs zwar Sibyllen mit stilisierten oder angedeuteten Flügeln finden, so ist mir bisher aber kein anderes Werk bekannt, in dem eine Sibylle derart gefiederte, haptisch anmutende Flügel an ihrem Kopf trägt. Was hat es mit dem geflügelten Haupt der Sibylle und generell ihrer aufwendigen Kleidung auf sich? Was vermag ihre besondere Gestaltung aufzurufen?

Kontext

Die ara-coeli-Legende war beliebtes Bildsujet zur Zeit der Entstehung des Kalkarer Retabels, insbesondere in den Niederlanden, aber auch in Deutschland. Betrachten wir Vergleichsbeispiele aus dem Kontext von Künstler und Auftraggeberschaft des Sieben-Schmerzen-Altars – der Liebfrauenbruderschaft von St. Nicolai sowie der Stadt Kalkar. Jene hatten auch den Hochaltar von St. Nicolai in Auftrag gegeben (1488–1509 gefertigt, 1518 geweiht). Dieser war ursprünglich durch einen Lettner vom restlichen Kirchenraum abgetrennt und nur für die Geistlichen und die Liebfrauenbruderschaft zugänglich. Für die Konzeption von dessen Bildprogramm hatten sie im Zeichen ihres hohen Anspruchs an die künstlerische Ausstattung ihrer Kirche eine Delegation aus Bruderschaftsmitgliedern, Bürgermeister und Zeichner u. a. nach Wesel, Zuphten, Deventer und ’s-Hertogenbosch entsandt, um einschlägige, aktuelle Altarwerke zu sichten. De Werd 2016², S. 65; Ulrike Wolff-Thomsen, Jan Joest von Kalkar. Ein niederländischer Maler um 1500, Bielefeld 1997, S. 136ff. Besondere Bedeutung erlangte der Marienaltar (1475–1477) des Utrechter Künstlers Adriaen van Wesel in der St. Johannes-Kathedrale in ’s-Hertogenbosch. Zum Marienaltar siehe Jan van Oudheusden, Geloven in vriendschap. 700 jaar Zwanenbroeders in ’s-Hertogenbosch, ’s-Hertogenbosch 2018, v. a. S. 37f. sowie Hilger 1990, S. 108. Erhalten sind noch Fragmente der Altarflügel, die – für unseren Zusammenhang bedeutsam – auf der linken Innenseite die ara-coeli-Legende zeigen. Die Sibylle trägt eine zeitgenössisch anmutende, hoch aufragende Haube und ein recht schlichtes, gegürtetes Kleid; Augustus ist in ein mit Broschen und Edelsteinen besetzten Herrschergewand gekleidet. Beide richten ihren Blick auf eine nicht mehr erhaltene Marienfigur mit Kind, auf die auch der auf dem rechten inneren Altarflügel dargestellte Johannes schaute, angeleitet im Sehen und Hören vom Engel der Offenbarung (Abb. 7).

Die ikonographische Kombination der beiden Visionen transferierte bereits Jan Joest um 1508 nach St. Nicolai in seiner Malerei der Altarflügel des Hochaltars. De Werd 2016², S. 76f.; Wolff-Thomsen 1997, S. 165. Er integrierte sie in den Hintergrund der Geburt Christi, allerdings jede mit ihrer eigenen Marienerscheinung (Abb. 8). Zu sehen war und ist dieses Bild mit einer elegant frisierten, höfisch gekleideten und somit als von hohem gesellschaftlichem Rang markierten Sibylle nur zur Advents- und Weihnachtszeit im geschlossenen Zustand des Retabels. In jenen Zeitraum des Kirchenjahres fällt – neben der Geburt Christi, für die die ara-coeli-Legende als Präfiguration gilt – auch das römisch-katholische Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens am 8. Dezember.

Die Unbefleckte Empfängnis, nach der Maria durch Gottes Gnaden frei der Erbsünde empfangen und von ihrer Mutter Anna geboren wurde, war bis zur Ernennung zum marianischen Dogma der katholischen Kirche 1854 immer wieder Gegenstand intensiver – mitunter bis zur Anrufung des Inquisitionsgerichts führender – theologischer Dispute und ist bis heute Diskussionspunkt im ökumenischen Dialog. Alessandra Galizzi Kroegel, „Der Disput über die Unbefleckte Empfängnis von Guillaume de Marcillat als Instrument religiöser Propaganda“, in: Ave Eva. Ein wiederentdecktes Hauptwerk des Renaissancemeisters Guillaume de Marcillat. Für die Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, hg. v. ders. und Roberto Contini, Petersberg 2013, S. 6–19, hier v. a. S. 6–9. Ende des 15. Jahrhunderts erkannte Papst Sixtus IV. das Hochfest der Unbefleckten Empfängnis offiziell an und im Zuge dessen auch zwei für die neue Liturgie maßgebliche Textsammlungen, darunter die von Bernardino de’ Busti. Ebd., S. 10f. Dessen Mariale. Officium et missa Immaculatae Conceptionis Beatae Mariae Virgini enthält neben dem mit der Sonne bekleideten Weib der Apokalypse bemerkenswerterweise auch die ara-coeli-Legende und damit die Legende von der Sibylle, der antik-paganen Jungfrau, die durch Gottes Gnaden weissagen und sehen konnte, und die dem römischen Kaiser die Vision der Jungfrau als Mutter des Weltenherrschers zeigt und deutet. Bernardino de Busti, Maria. Officium et missa Immaculatae Conceptionis Beatae Mariae Virgini, 1480, Pars VII, sermo I, online abrufbar unter: Mariale. Officium et missa Immaculatae Conceptionis Beatae Mariae Virginis, hg. v. Bernardinus de’ Bustis; Cum additionibus Dominici Ponzoni – Lower Silesian Digital Library (zuletzt abgerufen am 3.9.25). Bustis Text belegt damit die explizite liturgische Präsenz und Aktualität dieser Sibyllenfigur zu jener Zeit, die sich mit ihrer zeitgleichen Präsenz in bildkünstlerischen Werken verschränkt.

Die liturgisch verankerte Aktualität und Bedeutsamkeit der ara-coeli-Legende und ihrer Sibylle hinsichtlich des Themas der Unbefleckten Empfängnis führt beispielsweise ein Gemälde des sogenannten Meisters der Tiburtinischen Sibylle (Abb. 9) aus den Niederlanden vor Augen. Siehe Augustyn 2019, S. 799; zur Verknüpfung von ara-coeli-Legende und theologischer Debatte um die Unbefleckte Empfängnis siehe weiterhin Schulze-Feldmann 2018, S. 72f. In diesem Bild weist die höfisch gekleidete Sibylle mit kostbarem, modischem Haarschmuck und herabfallendem Schleier Kaiser Augustus die Marienvision von einem burgundischen Burghof aus. Dadurch werden Entstehungskontext des Bildes und Legende miteinander verwoben. Sehr wahrscheinlich wurde das Gemälde von Professoren und Protegés der Universität Löwen in Auftrag gegeben, die seit 1473 an der Kontroverse um die Unbefleckte Empfängnis teilhatten, die Haltung von Papst Sixtus IV. unterstützten und hier im Bild vermutlich in der Gruppe der modisch gekleideten Männer des kaiserlichen Gefolges porträtiert sind. Augustyn 2019, S. 799. Höre auch den Beitrag der Sammlungspräsentation des Städel Museums Frankfurt unter Die Weissagung der Sibylle von Tibur – Digitale Sammlung (zuletzt abgerufen am 3.9.25).

Gemälde
Abb. 9: Meister der Tiburtinischen Sibylle, Weissagung der Sibylle von Tibur, um 1480, Städelmuseum, Frankfurt.

Die zeitgenössisch anmutende und einen hohen gesellschaftlichen Rang markierende höfisch-modische Kleidung der Sibylle, wie sie sich beim Meister der Tiburtinischen Sibylle, im Altar von Adriaen van Wesel, in der Malerei von Jan Joest sowie im Kleid von Douvermans Sibylle mit den geschlitzten und gepufften Ärmeln und den im Dreieck angeordneten Perlenornamenten beobachten lässt, unterstreicht die Bedeutung der Legende und vor allem der göttlich begnadeten und modellhaften Sibylle als Vor-Ahnin der jungfräulichen Mutter Gottes über Zeit und Raum hinweg in den Entstehungskontext der Bildwerke hinein. Hilger 1990, S. 88f., 109ff.; Die Aktualisierung der Legende und ihrer Botschaft durch die Verschränkung mit der Gegenwart der Rezipierenden entspricht auch der devotio moderna, die für die Kalkarer Liebfrauenbruderschaft zentral war und etwa auch auf den Altarflügeln des Hochaltars sichtbar wird, siehe oben Endnote 16.

Dass sich zeitgenössische Referenzen in ara-coeli-Darstellungen aber gerade auch mit fantasievollen und antikisierenden Elementen verbinden können und somit unterschiedliche Verweispotentiale miteinander verschränken können, zeigt etwa eine Zeichnung Jan Gossaerts, entstanden vor 1516 (Abb. 10). Sibylle und Kaiser sind am rechten Bildrand unter einer Art erhöhtem Portikus positioniert und schauen auf die Vision am Himmel über einer vielfigurig bevölkerten und reich verzierten Stadtansicht mit einem Turm, der deutliche Ähnlichkeiten zum Brüsseler Rathaus mit der Figur des Erzengels Michael auf dem Drachen (Offb. 12, 7) aufweist. Siehe Samantha Heringuez, „Les paysages urbains dans l’œuvre des peintres flamands du xvie siècle. Représentations réelles et imaginaires des anciens pays-bas“, in: La Renaissance dans les anciens Pays-Bas XVIe-XVIIe siècles, hg. v. Laurence Baudoux-Rousseau u. Charles Giry-Deloison, Aire-sur-la-Lys 2022, S. 203–216. Die Sibylle ist derweil in einem aufgebauschten Kleid mit wehender Schärpe dargestellt und trägt einen raumgreifenden antikisierenden Helmbusch mit großen, aufgerollten Federn als Schmuck, der mit einem breiten Band ums Kinn gebunden ist. Die Sibylle wird hier somit deutlich als antik-pagane Figur, als Weissagerin vorchristlicher Zeit markiert, die zugleich in einem auf verschiedene Zeitebenen rekurrierenden architektonischen Setting erscheint.

Federzeichnung
Abb. 10: Jan Gossaert, Kaiser Augustus und die Sibylle (von Tibur), Federzeichnung mit schwarzer Tinte, vor 1516, vermutlich 1503–1509, 338 x 274 mm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, inv. 15295.

Entstanden ist die Zeichnung wohl in Antwerpen, wo Gossaert ab 1503 schwerpunktmäßig tätig war und wo im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts verschiedene Künstler – darunter Jan de Beer und Adriaen van Overbeke – Werke schufen, deren Bildsprache in der heutigen Forschung als Antwerpener Manierismus bezeichnet wird, und die sich u. a. intensiv der ara-coeli-Legende als Bildsujet widmeten. Siehe Ellen Konowitz, „Katalog-Nr. 10, Jan Gossaert. The Emperor Augustus and the Tiburtine Sibyl“, in: ExtravagAnt!, hg. v. Kristin Lohse Belkin, 2005, S. 41–43; Peter van den Brink, „Katalog-Nr. 49, Anonymous. Emperor Augustus and the Tiburtine Sibyl”, in: ExtravagAnt!, hg. v. Kristin Lohse Belkin, 2005, S. 129–131; Renate Trnek, „Das ‚Sibyllentüchlein‘ in der Wiener Akademiegalerie“, in: Alte und Moderne Kunst, hg. v. Gerhart Egger, Herbert Fux, Wilhelm Mrazek u. Kurt Rossacher, Heft 188, 1983, S. 1–8, hier S. 7. Figuren und Architekturelemente jenes Werkkreises zeichnen sich durch „Extravaganz und Bühnenhaftigkeit“ aus, wobei v. a. die Frauenfiguren mit „fantastischen Gewändern und Kopfbedeckungen“ John Hand, „Der Künstler und seine Kundschaft. Die Altarretabel Joos van Cleves und ihr Handel in Europa“, in: Joos van Cleve. Leonardo des Nordens, hg. v. Peter van den Brink, Ausst.kat., Stuttgart 2011, S. 30–63, hier S. 38., ja „skurrilen Kostüme[n]“ als ‚Modeerscheinung‘ Trnek 1983, S. 1–8. gezeigt werden. Dabei fällt insbesondere der stets auffällige, aufwendige, kunstvolle und von Bild zu Bild nuanciert variierte Kopfschmuck der Sibylle auf (Abb. 11–12), der mitunter zu stilisierten Ohrflügeln ausgearbeitet wird (Abb. 12). Derartige stilisierte Ohrflügel an einem antikisierenden Helm bzw. Flügelhelm lassen die Sibylle als „antike Heroin“ in teils zeitgenössisch höfischem Kleid erscheinen. Augustyn 2019, S. 909 und Endnote 3524, S. 937. Siehe auch Giovanni Boccaccio, De claris mulierbus, Holzschnitt, Matthias Apiarius/Matthias Biener, Bern 1539, British Museum, fol. 14r.

Fotografie Reinhold-Altar
Abb. 13: Jan de Molder und Werkstatt (?) (Schnitzerei), Joos van Cleve (Malerei), Reinhold-Altar, 1516, Eichenholz mit farbiger Fassung und Vergoldung, Temperamalerei, Nationalmuseum Warschau.

Die Flügelornamentik findet sich im Antwerpener Kontext auch bei anderen Sibyllen – etwa oben rechts am Rand bei einer der vier Sibyllen (Persische, Erythräische, Libysche und Cumäische) am Reinhold-Altar (1516 fertiggestellt) (Abb. 13). Der für die Marienkirche der Hansestadt Danzig bestimmte Altar wurde in Kooperation von Antwerpener Bildschnitzern, vermutlich Jan de Molder und seiner Werkstatt, sowie Joos van Cleve (Joos van der Beke) gefertigt, der seinem Künstlernamen nach aus dem Herzogtum bzw. der Stadt Kleve kam und zuvor Assistent von Jan Joest für die Malerei des Hochaltars von St. Nicolai in Kalkar gewesen war. Diese Künstlerkonstellation verdeutlicht einmal mehr die engen Austauschprozesse zwischen Künstlern in Antwerpen bzw. den burgundischen Niederlanden sowie dem Herzogtum Kleve bzw. den Vereinigten Herzogtümern Jülich-Kleve-Berg, wo die stilisierten Ohrflügel um 1520 auch das Haupt der modisch mit geschlitzten Puffärmeln gekleideten ara-coeli-Sibylle am Lettnerbogen der Pfarrkirche St. Johannes der Täufer in Siersdorf bei Jülich schmücken (Abb. 14). Hand 2011, S. 34f.; Hand/Leeflang 2011, S. 21; Micha Leeflang, Joos van Cleve. A Sixteenth-Century Antwerp Artist and His Workshop, Turnhout 2015, S. 9f., 115f.; John Oliver Hand, Joos van Cleve. The Complete Paintings, New Haven/London 2004, S. 31, 117. Zum Lettnerbogen in Siersdorf siehe Chris Theile, Der Renaissance-Bogen aus Siersdorf. Untersuchungen zu Werktechnik und Restaurierungsgeschichte – Entwicklung eines Konservierungs- und Präsentationskonzeptes, Diplomarbeit am Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft der Fachhochschule Köln, 2009. Herzlichen Dank an Chris Theile für die Zusendung seiner Arbeit.

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Abb. 14: Meister von Elsloo (zugeschr.), Lettnerbogen mit Sibylle und Augustus, 1. Hälfte 16. Jh. (vermutl. um 1520), Eichenholz, Pfarrkirche Siersdorf.

Es finden sich im für Douvermans Kalkarer Retabel prägenden Kontext demnach zum einen Darstellungen der ara-coeli-Sibylle mit Kopfschmuck-Kreationen wie enganliegenden Hauben mit herabfallenden Schleiern oder modischen Frisuren mit kostbaren Hauben, die deutlich als zeitgenössische Referenzen höfischer, ranghoher Gewandung anzusehen sind und Identifikationsmöglichkeiten bieten bzw. Modellhaftigkeit signalisieren können. Zum anderen markieren stilisierte Ohrflügel und/oder Federharnisch-Variationen als „Phantasiehelm[e]“ Augustyn 2019, S. 800. mit antikisierenden Elementen die Sibylle gerade als antike Seherin. Ob es sich dabei tatsächlich um eine rein generische Antikenreferenz handelt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. An der Douvermanschen Sibylle aber wird im Vergleich deutlich, dass der Bildschnitzer in Kalkar auf originelle Weise weitergeht.

Mit den Flügeln am Haupt der Sibylle, den Flügeln des Engels der Offenbarung und jenen der kleineren Engel in den oberen Registern ergibt sich um Maria und Kind ein regelrechtes Auffächern von Flügeln, von Federn, von Windhauch-Implikationen, von Leichtigkeit, von Beweglichkeit zwischen Irdischem und Überirdischem. Für die Engel sind die Flügel Standard, für die Sibylle jedoch Ausnahme.

Douverman zeigt die Sibylle in aufwendigem, edlem zeitgenössischem Kleid und verleiht ihr so Modellhaftigkeit, während er zugleich die stilisierten, antikisierenden Ohrflügel zu gefiederten Flügeln ausgestaltet und die Sibylle so mit geflügeltem Haupt, ja beflügeltem Geist darstellt. Dabei sind die Federn explizit kein Ornament mehr, sondern durch ihre Machart, sinnlich-haptische Anmutung und Größe Statement, Symbol. Aber für was? Wer trägt gefiederte Flügel am Kopf, worauf spielen diese an?

Beflügelt – Kommunikation, Inspiration und furor

Dass Flügel Schwung und Leichtigkeit bedeuteten, die die Bewegung auf dem Weg zum Göttlichen ermöglichen, zeigen natürlich v. a. die Flügel der Engel als Himmelsboten. So zu lesen etwa in Über die himmlische Hierarchie von Pseudodionysius Areopagita (5. oder 6. Jh. n. Chr.), die einschlägige spätantike Abhandlung über Engel. Siehe Laura Cohen, Gestalt und Gehalt der Merkurfigur in der Bildhauerei der Frühen Neuzeit, Bonn 2020, S. 81ff. Doch die Flügel am bzw. auf dem Kopf waren vor allem durch eine der prominentesten und im 16. Jahrhundert vielfach dargestellten und allegorisch aufgeladenen Figuren bekannt: Hermes/Merkur, den antiken Götterboten, Gott der Beredsamkeit, Verkünder von Ruhm und Frieden. Cohen 2020. Gerade in der Rheinregion wurden etliche antike Bronzestatuetten des Gottes Merkur aus Zeiten der römischen Kolonie gefunden, siehe Erich Claßen, Michael M. Rind, Thomas Schürmann und Marcus Trier (Hgg.), Roms fließende Grenzen, Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen, Darmstadt 2021, S. 378. Sein geflügelter Helm (und oftmals auch seine geflügelten Schuhe) erlauben es ihm, als Bote zwischen dem himmlischen und irdischen Bereich unterwegs zu sein und zu kommunizieren – Botschaften der Götter an die Menschen zu überbringen, aber auch zwischen beiden zu vermitteln. Im Spätmittelalter wurde zudem ein Planet nach ihm benannt und zu seinen Planetenkindern gehörten nicht zuletzt Künstler, weshalb er auch sozusagen als Schutzpatron der Kreativen galt. Zur bildlichen Gestalt von Merkur als Planetengott siehe z. B. auch Conrad Heinfogel (?), Die Karte des Nördlichen Sternenhimmels, 1503, Inv.-Nr. Hz 5576, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, online abrufbar hier (zuletzt eingesehen am 3.9.25). So ist Merkur beispielsweise im Autorenbild des Poeten und Poetologen Konrad Celtis in damals typischer Darstellungsmanier zu sehen (Abb. 15). Siehe zu diesem Bild Ulrich Pfisterer, „Traurige Musen. Jacopo de’ Barbari zu Malerei, Dichtung und Kulturtransfer im Norden“, in: Kulturtransfer am Fürstenhof. Höfische Austauschprozesse und ihre Medien im Zeitalter Kaiser Maximilians I, Berlin 2013, S. 189–217, hier S. 202.

Konrad Celtis
Abb. 15: Konrad Celtis, Amores, Nürnberg 1502, fol. a6v (nach Albrecht Dürer: Philosophia) und a7r (Meister der Celtis-Illustrationen: Celtis als Dichter im Kreis antiker Götter und Musen).

Überträgt man Kompetenzen und Funktionen von Hermes/Merkur assoziativ auf die Kalkarer Sibylle, zeigt sich diese mit ihrem geflügelten Haupt sowohl als antik verwurzelte Mittlerin zwischen Gott und den Menschen, während zugleich eine Verbindung mit künstlerischem Schaffen und Kreativität, Poietischem aufgerufen wird. Doch wie genau könnte eine solche Verbindung aussehen? Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür gibt ein Zeitgenosse Douvermans, der Schüler des oben erwähnten Konrad Celtis war: der Humanist Joachim Vadian. In seiner dichtungstheoretischen Schrift De Poetica et Carminis Ratione (1518) wird die platonische und v. a. durch den neuplatonischen Ion-Kommentar Marsilio Ficinos überformte Idee des furor, der die Seele beflügelt, mit der Vorstellung der Verbalinspiration durch den Heiligen Geist und dem theologischen Konzept der Erleuchtung – also „antike vorchristliche Auffassungen dichterischer Produktion“ und „christliche Inspirationsauffassung“ Renate Schlesier, „Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung. Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft (2004), S. 177–194, hier S. 180. – verschmolzen und bemerkenswerterweise auch mit den göttlich inspirierten Sibyllen korreliert. Siehe Magnus Wieland, Schreibrausch. Figuren des poetischen Furors, Hannover 2022, S. 31f. Zu Celtis als Lehrer Vadians sowie ausführlich zu Vadians Dichtungstheorie und dem furor-Konzept siehe Christoph J. Steppich, „Die Begründung der dichterischen Kreativität in De Poetica et Carminis Ratione (Wien, 1518) des Joachim Vadian“, in: Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, hg. v. Renate Schlesier u. Beatrice Trinca, Hildesheim 2008, S. 157–176, hier v. a. S. 158. Wichtig ist Vadian in seiner Auseinandersetzung mit dem furor prinzipiell „daß weder der Eindruck bestehe, die göttliche Begeisterung mache die Kunst überflüssig, noch der, der Nachweis der Kunst steche die Begeisterung aus.“ Vadianus, De Poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar, hg. v. Peter Schäffer, Bd. 2, deutsche Übersetzung, München 1976, S. 116. Doch der Reihe nach.

Douverman zeigt die Sibylle in aufwendigem, edlem zeitgenössischem Kleid und verleiht ihr so Modellhaftigkeit, während er zugleich die stilisierten, antikisierenden Ohrflügel zu gefiederten Flügeln ausgestaltet und die Sibylle so mit geflügeltem Haupt, ja beflügeltem Geist darstellt.

Der beflügelte Geist ist ein po(i)etologisch tief verankertes Bild. In Platons Ion spricht die Dialogfigur Sokrates etwa vom Dichter als „leichte[m] Wesen“, „geflügelt (πτηνός) und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist.“ Platon, „Ion“, in: ders., Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 1, Darmstadt 2005⁴, S. 1–39, hier S. 17 (534b–e). Während Platon womöglich eher eine Parodie auf die Idee des begeisterten, inspirierten Dichters verfasste, wurde in der Folge und insbesondere im 16. Jahrhundert der furor (poeticus) zu einem Kernkonzept in Auseinandersetzungen mit künstlerischem Schaffen, Kreativität und Begabung. Siehe hierzu Magnago Lampugnani 2020, S. 22 sowie Wieland 2022, S. 30f. Dabei wird krankhafte von gottbewirkter, begeisterter Entrücktheit unterschieden. Die göttlich eingehauchte Begeisterung, zu welcher der furor poeticus, der furor mysterii, der furor vaticinii – also die Begeisterung der Weissagung – sowie der furor amoris gezählt werden Vadianus 1976, S. 117f. und im lateinischen Original: Joachim Vadianus, De Poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar, hg. v. Peter Schäffer, Bd. 1, Kritische Ausgabe, München 1973, S. 101. und welche die Flügel der präexistenten Seele für die Bewegung zum Himmlischen hin wieder zum Wachsen bringen kann Steppich 2008, S. 164f.; Magnago Lampugnani 2020, S. 226f., wird von Vadian im Kapitel „Über die dichterische Begeisterung (De Furore Poetico)“ wie folgt definiert: „[D]iese Begeisterung [furorem istum], wie sie Platon verstanden hat und durch die der menschliche Verstand plötzlich in seinem jeweiligen Wissensbereich [doctrinae genere] erleuchtet werden kann, ist die Gnade des heiligen Geistes[.]“ Vadianus 1976, S. 124f.; auf Latein: Vadianus 1973, S. 106. Weiter heißt es im Rekurs auf Augustinus’ De Civitate Dei (18, 23), Laktanz (Divinae institutiones, 1. Buch) sowie Hieronymus’ Schrift Contra Iovinianum (26. Kapitel), dass Gott sich auch „der Frommen in einem falschen Glauben“ erbarme, wie an den Sibyllen deutlich werde, die „über die Geburt Christi, sein Leiden, seinen Abstieg in die Hölle in einhelligen Gesängen weissagten, was eben durch den heiligen Geist geschah, der die Seelen der heidnischen Weiblein ergreifend anhauchte, weil sie durch Jungfräulichkeit ausgezeichnet waren, deren Gabe […] die Weissagung ist.“ Vadianus 1976, S. 125; auf Latein: Vadianus 1973, S. 106f. Prophetischer und dichterischer furor nun seien bereits öfters zusammengefallen, und so könne man die „Sibyllen mit Recht auch dichterisch nennen, weil dadurch die Dichter den Namen des Sehers [vates]“ erhalten haben. Vadianus 1976, S. 125; Vadianus 1973, S. 107. Siehe zu diesem Aspekt auch Steppich 2008, S. 166f.

Dass die paganen Sibyllen in poetologischen Debatten zu furor und Inspiration durchaus eine relevante Rolle spielen konnten, wird gerade auch an der „[e]inzige[n] Stelle in der nicht-christlichen lateinischen Literatur [deutlich], an der der Vorgang des inspirare als göttliches ‚Einhauchen‘ in einen Menschen dargestellt ist“ Schlesier 2004, S. 184; Publius Vergilius Maro, Aeneis. Lateinisch – Deutsch, hg. u. über. v. Gerhard Fink, Düsseldorf 2005, S. 244f., nämlich zu Beginn des 6. Buches von Vergils Aeneis. Siehe zur Bedeutung dieser Textstelle für die Sibyllentradition auch Ulrike Schneider, „Die Sibylle: figura und officium. Dimensionen figuralen Wissens (in) der Dichtung“, in: Figurales Wissen. Medialität, Ästhetik und Materialität von Wissen in der Vormoderne (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte), hg. v. Anne Eusterschulte u. Claudia Reufer, Wiesbaden (im Erscheinen). Dort gibt Apoll der Sibylle, der weissagenden Jungfrau (virgo), tiefe Gedanken und göttlichen Geist ein (inspirat) und offenbart ihr die Zukunft, die sie wiederum Aeneas prophezeit – sichtlich entrückt, mit keuchender Kehle, ungeordnetem Haar und geschwellter Brust, denn es „streift sie der Anhauch des Gottes (adflata est numine), der ihr schon ganz nahe ist“. Vergilius Maro 2005, S. 246f. Siehe zur Sibylle in Vergils Aeneis sowie im Eneasroman von Heinrich von Veldeke die Beiträge „Goldene Verzweigungen. Affizierung und Beglaubigung in Vergils Aeneis und im Eneasroman Heinrichs von Veldeke“ von Falk Quenstedt sowie „Tosende Feuerflüsse und zischendes Natternfell. Wie mittelalterliche Höllendarstellungen in ihren Bann ziehen“ von Carolin Pape.

Das geflügelte Haupt, wie wir es – für die ikonographische Tradition der Sibyllenfigur ungewöhnlich und originell – bei Douvermans Sibylle vorfinden, wurde Ende des 16. Jahrhunderts bezeichnenderweise in frühneuzeitlichen Personifikationen des furor aussagekräftiges Bildelement, wie Cesare Ripas Iconologia 1593 zeigt (Abb. 16). Ripas androgyn anmutender Furor poetico trägt einen Lorbeerkranz auf dem Kopf und auf Höhe der Ohren gefiederte Flügel – als hätte ihn Douvermans Sibyllen inspiriert. In Ripas Text zum Furor poetico heißt es, die Flügel stehen für die prompte und emporhebende Schnelligkeit des dichterischen Intellekts („la prestezza, & la velocità dell’intelletto Poetico, che non s’immerge: ma si sublima“). Sie verbildlichen also letztlich den „sprichwörtlich beflügelte[n] Geist“, und verweisen zugleich auf die „bei Platon erwähnten Seelenflügel, welche die unsterbliche Seele beim Abstieg ins Irdische verloren“ Wieland Jahr, S. 33. hat.

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Abb. 16: Cesare Ripa, Furor poetico, in: Iconologia, Rom 1593, S. 178.

Eine geflügelte Sibylle & ein virtuoser Bildschnitzer

Die sehende, zeigende und sprechende Sibylle am Sieben-Schmerzen-Altar vermag in ihrem historisch-transdisziplinären Kontext betrachtet also als antik-pagane, göttlich inspirierte Weissagerin mit beflügeltem Geist auch ein kunsttheoretisch aufgeladenes Statement zu verkörpern. Denn das Ausstellen ihres sowohl prophetischen als auch poetisch wirksamen furor durch das geflügelte Haupt vermag – weitergedacht – den furor des Künstlers aufzurufen, der diese Figur erdacht und gestaltet hat. Denn der Bildschnitzer Douverman ist es, der die Sibylle aus totem, harten Eichenholz virtuos geschnitzt, ihr den Anschein von Lebendigkeit sowie eine komplexe Semantik verliehen hat. Die geflügelte Sibylle Kalkars ist also neben der modellhaften und theologisch bedeutsam aufgeladenen Legendenfigur zugleich potentielle figura für den Bildschnitzer, um seine kreative Begabung und Meisterschaft zu thematisieren. Dass Douverman, der von den „gebräuchlichsten Formen des künstlerischen Selbstverweises“ Andreas Gormans, „Ohne Signatur und Selbstporträt, aber dennoch ‚voll im Bilde‘. Die Wurzel Jesse-Darstellungen Henrik Douvermans als künstlerische Selbstverweise“, in: Altar und Bild im Dom zu Xanten, hg. v. Niklas Gliesmann u. Esther Meier, Kromsdorf/Weimar 2017, S. 55–79, hier S. 58. – der Signatur und dem Selbstporträt – absah, sich dennoch zu verewigen suchte, legt Andreas Gormans schlüssige Analyse von Douvermans holzsichtigen Wurzel-Jesse-Schnitzereien am Kalkarer sowie Xantener Retabel dar. Das aus Jesse, der im Traum göttlich inspirierte Visionen hat, emporwachsende Geäst mit Christi Vorfahren erweist sich mit der „beispiellosen Virtuosität [der] künstlerischen Umsetzung“ Ebd., S. 58f. als „Meisterwerk spätmittelalterlicher Kalligraphie in Holz“ Ebd., S. 73. des „quasi göttlich-inspirierten Künstler[s]“ Ebd., S. 58f.. In der Vision der Sibylle setzt Douverman diese Ideen und Anspielungen auf gelehrte und gekonnte Weise fort.

Womöglich spielten die gefiederten Flügel zugleich auf die Klever Herzogsfamilie an, deren Ahnenwappen vielfach Helme mit Schmuckfedern zeigen und deren Wappentier der Schwan war. Siehe z. B. die Tumba von Herzog Johann I. von Kleve (1419–1481) und seiner Gemahlin Elisabeth von Burgund (1439–1483) in der Stiftskirche in Kleve. Hans Peter Hilger, „Grabdenkmäler der Häuser Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg“, in: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich Kleve Berg, Kleve 1984, hg. v. Städtischen Museum Haus Koekkoek Kleve und vom Stadtmuseum Düsseldorf, S. 181–208, hier S. 188ff. Denn das Klever Geschlecht verknüpfte seinen Ursprung mit der Sage des Schwanenritters Elyas, der auf einem Schiff, das von einem schönen, weißen Schwan mit goldener Kette um den Hals gezogen wurde, über den Rhein kam, um die klevische Herrschaftstochter Beatrix zu heiraten und mit ihr ein mächtiges Reich zu führen. Zur Schwanenrittersage und dem Porträt Sibylles siehe Sylvia Weigelt, Sibylle von Kleve. Cranachs schönes Modell, Weimar/Eisenach 2012, S. 7–10. Das Gemälde der Sibylle von Cleve als Braut von Lucas Cranach d. Ä. gehört heute zur Sammlung der Klassik Stiftung Weimar. Zur Schwanenrittersage siehe z. B. auch die Erzählung in der klevischen Chronik von Gert van der Schuren (um 1470). Die Schwanenburg – Klevischer Verein sowie Schwanenrittersage (zuletzt eingesehen am 3.9.25). Im 15. und 16. Jahrhundert war das Herzogtum Kleve tatsächlich „ein pulsierender Knotenpunkt kommerzieller und künstlerischer Aktivitäten“ Hand und Leeflang 2011, S. 21f. Siehe zum Herzogtum Kleve außerdem den Ausstellungskatalog Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich Kleve Berg, hg. v. Städtischen Museum Haus Koekkoek Kleve und vom Stadtmuseum Düsseldorf, Kleve 1984.. Und die ara-coeli-Legende wiederum eignete sich durch die vorbildhafte Rolle Augustus’ gut zur Repräsentation guter Herrschaft. Ab 1521 war Johann von Jülich-Kleve-Berg schließlich auch der „mächtigste Fürst im Westen des Reiches […] [und gefragte] Stimme in reichspolitischen Angelegenheiten“ Weigelt 2012, S. 10. und hatte im Übrigen sein erstgeborenes Kind (*1512) – nach der Großmutter – Sibylle genannt. Es wäre reizvoll, in Douvermans Sibylle ein Kryptoporträt der Sibylle von Jülich-Kleve-Berg zu sehen, die 1526 zu ihrer Verlobung mit dem zukünftigen Kurfürsten von Sachsen, Johann Friedrich I., von Lucas Cranach d. Ä. als Braut porträtiert wurde. Für das Porträt siehe Fotothek Online – Klassik Stiftung Weimar digital (zuletzt aufgerufen am 3.9.25). Doch dafür war die Herzogstochter 1518/1521 leider schlicht noch zu jung.

Die sehende, zeigende und sprechende Sibylle am Sieben-Schmerzen-Altar vermag in ihrem historisch-transdisziplinären Kontext betrachtet als antik-pagane, göttlich inspirierte Weissagerin mit beflügeltem Geist auch ein kunsttheoretisch aufgeladenes Statement zu verkörpern. Denn das Ausstellen ihres sowohl prophetischen als auch poetisch wirksamen furor durch das geflügelte Haupt vermag den furor des Künstlers aufzurufen, der diese Figur erdacht und gestaltet hat.

Dass Douverman und seine anspielungsreiche und virtuose Kunst auch aneckten, legen Auftragshistorien nahe. „[N]ach den urkundlich greifbaren Fakten […] [tritt er] als ein von der Gesellschaft verkanntes Genie […] [und] zugleich hochgeachteter Meister in Kalkar“ Hilger 1990, S. 146. auf, dem die Kirchmeister der Klever Stiftskirche 1513 die Fertigstellung des Marienaltars untersagt hatten und der an dem von ihm konzipierten Marienretabel (1525–1530) des Xantener Doms nur die Predella ausführte, während alle weiteren Szenen und Figuren von anderen Künstlern gefertigt wurden. De Werd 2016², S. 93; Hilger 1990, S. 306. So auch die ara-coeli-Sibyllenfigur im Gesprenge (Abb. 17), die Henrik van Holt zugeschrieben wird. Sie trägt einen schlichten Mantel, der in Rosa und Grün gefasst ist, und eine schlichte blaue Haube mit Goldrand. Zugespitzt gesagt, ist die Sibylle hier uninspiriert geblieben.

Fotografie des oberen Teils des Marienaltars
Abb. 17: Henrik Douverman (Konzeption und Predella), Arndt van Tricht, Henrik van Holt (Gesprenge-Figuren, zugeschrieben), Marienaltar, 1545, Eichenholz, polychrom gefasst, St. Viktor, Xanten.

Vielleicht erschlossen sich van Holt die anspielungsreichen Flügel der Douvermanschen Sibylle nicht? Oder die Auftraggeber lehnten sie ab, da sie aufgrund der mit ihr aufgerufenen Konnotationen den Fokus zu sehr von theologischen Dimensionen weg und in der Verbindung von christlicher Inspirationsvorstellung und antikem furor zu sehr hin zu Kunstfragen führten? Siehe allgemeiner zum „Zusammenspiel von christlich-strenger Inspirationsvorstellung und antikem furor“ in den Sibyllen Magnago Lampugnani 2020, S. 29. Douvermans Sibylle zeigt jedenfalls eindrücklich, wie verdichtet, anspielungsreich und originell die virulente und etablierte Figur der Sibylle ausgestaltet werden konnte. Denn die geflügelte Sibylle in Kalkar erweist sich wahrlich als wissensgeschichtliches Fundstück: In ihr verflechten sich auf produktive Weise und in meisterhafter Schnitzkunst ikonographische und literarische Traditionen, künstlerische Austauschprozesse, ethische Modellhaftigkeit und theologische Debatten, Rekurse auf antike Götterboten und Heroinnen sowie kunsttheoretisch-po(i)etologische Statements, Vorstellungen antiken furors und göttlicher Inspiration.

Mira Becker-Sawatzky ist als Kunsthistorikerin und Romanistin Postdoktorandin am SFB 980.