Nicht selten ködern staunenerregende Schlagzeilen ihre Leser·innen mit der Entdeckung neuer Tier- und Pflanzenarten. Lesen wir diese aus Neugierde, Zweifel oder Überraschung darüber, dass es im 21. Jh. trotz exponentiell gewachsenen Wissens über die scheinbar erschlossene Welt noch Raum gibt für Wunder? Wie hat man vor 2000 Jahren auf die Welt und ihre Wunder reagiert?

I. Staunen erheischen

Die unterstellte Reaktion der Leser·innen von heute und der eines Plinius des Älteren († 79 n. Chr.) sind durchaus miteinander vergleichbar. Führt man sich nämlich den geopolitischen Status Quo des römischen Reiches vor Augen, das wenige Jahre nach Plinius den Punkt seiner größten Ausdehnung erreichen sollte, so scheint die Welt aus der Perspektive der herrschenden Römer tatsächlich eine durch und durch erschlossene. Auch die griechische und römische Literatur der philosophischen und naturwissenschaftlichen Welterklärung mag ihren Beitrag zu diesem Selbstverständnis geleistet haben. Die formale Erscheinung von Plinius’ 37 Bücher umfassender Enzyklopädie, der Naturalis Historia, sei damit als aneignendes-alleseinverleibendes Wissenssammelsurium, so die gängige Forschungsmeinung der letzten Jahrzehnte, das kongeniale Abbild des nahezu weltumfassenden imperium Romanum. Siehe u. a. Trevor Murphy, Pliny the Elder’s Natural History. The Empire in the Encyclopedia, Oxford 2004 oder Valérie Naas, „Imperialism, Mirabilia, and Knowledge: Some Paradoxes in the Naturalis Historia“, in: Pliny the Elder: Themes and Contexts, hg. v. Roy K. Gibson u. Ruth Morello, Leiden/Boston 2011, S. 57–70.

Gleichwohl präsentiert Plinius die Phänomene der Welt und was man über sie wissen kann keineswegs im Duktus des abgebrühten Erklärers, sondern umgibt sie nahezu kontinuierlich mit der Aura des Wunderbaren (im Lateinischen u. a.: [ad]mirari; admiratio; mirum; mirabile; miraculum); und genau darin ist er den gegenwärtigen Schlagzeilen von den noch immer unbekannten oder täglich sich ereignenden Wundern dieser Welt, seien es die Entdeckung des monströs anmutenden Erdbeerfedersterns („Meereswesen mit 20 Armen in der Tiefsee entdeckt“, Robert Klatt für Forschung und Wissen am 14.08.2023) oder der Geburtstag des ältesten Menschen der Erde, nicht unähnlich. Eine besondere Ähnlichkeit fällt z. B. mit Caspar Hendersons The Book of Barely Imagined Beings. A 21st Century Bestiary, Chicago 2012 ins Auge, der wie Plinius zur enzyklopädischen Darstellung greift; für den Literaturverweis möchte ich mich bei Jutta Eming bedanken. Mit dem Parameter des Wunders und des Sich-Wunderns baut Plinius zudem eine Brücke zwischen Welt und Text, zwischen Produktion und Rezeption: Wie der Autor in seinem Schreiben und Selektieren angesichts der Vielfalt von Natur und Welt ins Staunen gerät, so soll analog der entstehende Text mit seinen Erzählungen und expliziten Hinweisen auf das Wunderbare in Form und Inhalt bei den Lesenden Staunen erheischen und sie an sich binden; damit fallen Welt und Buch in Plinius’ Feder in eins und bedienen ganz nebenbei eine Jahrtausende alte Metapher. Wie sie Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 112020, im Wandel der Zeiten und Literaturen beschrieben hat; zu Plinius d. Ä. v. a. S. 284 u. 288.

Das Wunder(n) erstreckt sich dabei auf ganz unterschiedliche Ebenen des Textes und stellt keine rein inhaltliche Entität (wie es Kataloge und Listen von mirabilia implizieren könnten) oder eine lediglich rezeptionsästhetische Wirkgröße dar: Es ist entscheidend an der Konfiguration eines spezifischen Wissens beteiligt und kann selbst als besonderer Wissensmodus gelten. Für den Konnex von Wissen und Wunder und sein epistemologisches Potenzial siehe Jutta Eming, Falk Quenstedt u. Tilo Renz, „Das wunderbare als Konfiguration des Wissens – Grundlegungen zu seiner Epistemologie“, Working Paper des SFB 980 Episteme in Bewegung 12/2018, Freie Universität Berlin. Vielleicht ist gerade der Komplex von Wissen und Wunder eines der Zentren von Plinius’ Werk. Dazu u. a. Valérie Naas, Le projet encyclopédique de Pline l’Ancien, Rom 2002; dies., „Imperialism, Mirabilia, and Knowledge: Some Paradoxes in the Naturalis Historia“ oder Mary Beagon, „Situating Nature’s Wonders in Pliny’s Natural History“, in: Vita Vigilia Est: Essays in Honour of Barbara Levick, hg. v. Edward Bispham u. Greg Rowe, London 2007, S. 19–40. Der epistemischen Dimension und Bedeutung des Wunder(n)s wird man schon allein dadurch gewahr, dass er seinen Text und sein Schreiben bisweilen ganz nach ihm ausrichtet (Plin. nat. 16, 1):

„Als nächstes wäre von den eicheltragenden Bäumen zu sprechen (…), zwänge nicht die auf eigene Beobachtung gegründete Bewunderung dazu, vorher zu sagen (ni praeverti cogeret admiratio), wie und von welcher Art das Leben derer ist, die ohne irgendeinen Baum oder Strauch ihr Dasein fristen.“ Die Übersetzungen folgen den Ausgaben C. Plinius Secundus d. Ä. Naturkunde. Lateinisch–deutsch. Buch I–XXXVII, hg. u. übs. v. Roderich König und Gerhard Winkler (u. a.), Düsseldorf/Zürich 1997 (u. a.); der lat. Text den Ausgaben C. Plini Secundi Naturalis Historiae Libri XXXVII. Vol. I–V, hg. v. Karl Mayhoff, Stuttgart/Leipzig 1996 (u. a.).

So bestimmt die admiratio über Reihenfolge und Relevanz des Dargestellten (praevertere) und dies prominent und programmatisch an den Buchanfängen (vgl. 17, 1: „Vorher möchte ich aber meine Verwunderung darüber äußern [sed prius mirari succurrit], dass Bäume […] zu so teuer bezahlten Luxusgegenständen wurden.“). Dabei wird das Wunder(n) eine dynamisch-agierende, Plinius immer wieder dazwischenkommende und ihn steuernde Größe (cogere/succurrere). Neben der Markierung epistemischer Bedeutsamkeit oder Geltung qua Selektion (vgl. 14, 20: „Es sollen auch nicht alle genannt werden, sondern nur […] die durch irgendeine Eigenschaft etwas Auffallendes darstellen [aliqua proprietate miraculum]“) bestimmt das (ad)mirari aber auch über Umfang und Genauigkeit des Dargestellten (vgl. 16, 168: „Die Bewunderung für das Altertum zwingt mich, etwas genauer [accuratius dici cogit admiratio] von den Rohrgebüschen des orchomenischen Sees zu sprechen.“). Die durch das Wunder(n) markierte Wertigkeit und Auswahl wird oft schon allein dadurch sichtbar, dass Plinius in seinem vorangestellten Inhaltsverzeichnis explizit darauf vorverweist, wie es z. B. beim Zwischentitel zum besagten Anfang des 17. Buches der Fall ist: arborum pretia mirabilia („Erstaunliche Preise von Bäumen“); genau an diesen Stellen entfaltet sich im Fließtext nicht selten die Erzählung von repräsentativen und doch singulären Beispielen und Anekdoten (vgl. 17, 1: clarissimum exemplum und 2–6).

Neben dem Paradoxen, Unerwarteten oder gegen die Norm Verstoßenden ist das wohl wichtigste dem Wunderbaren inhärente Kriterium die Neuheit von Dingen und Ereignissen, über die wir – wie eingangs behauptet – auch heute noch so sehr staunen.

Auch Plinius kennt, ganz wie unsere Schlagzeile zum Erdbeerfederstern, die Entdeckung neuer Arten von Tieren (vgl. den Indextitel de novis avibus [„Über neuartige Vögel“] zu 10, 135), wobei die Weltmeere das allergrößte Potenzial des Wunder(n)s bärgen (vgl. 9, 2: in mari autem […] pleraque etiam monstrifica reperiuntur – „im Meer aber findet man die meisten monströsen Dinge“); und was den Menschen betrifft, so dürfen legendäres Alter Vgl. Plin. nat. 7, 27–29 u. 7, 153–165. oder körperliche Anomalien, Vgl. Plin. nat. 7, 9ff. über die man schwerlich hinwegsehen oder -lesen kann, nicht fehlen – das gesamte 7. Buch zur Plinius’schen „Anthropologie“ ist hierfür die beste Fundgrube.

Fotografie eines Erdbeerfedersterns (Promachocrinus fragarius) vor schwarzem Hintergrund. Ausschnitt.
Erdbeerfederstern. Promachocrinus fragarius.

Gerade die Entdeckung und das Entstehen von Neuem sind es, die Welt und Natur zu etwas Unerschöpflichem und Dynamischem machen. Die Natur ist mehr als nur eine – wenn auch 37 Bücher umfassende – Enzyklopädie.

Meine Frage wäre allerdings, ob nicht auch Plinius’ Naturalis Historia – gerade aufgrund der kontinuierlichen Kopplung von Wissen und Wunder – selbst mehr sein will als ein bloßes Inventar des rational Wissbaren und ein Abbild der epistemischen Errungenschaften des imperium Romanum.

Ob sie nicht eigentlich als Reaktion darauf eine Werbeschrift für die Wunder der Welt, das nicht Wissbare, noch Unergründete und Unerklärliche ist und für das Sich-Wundern, ja, das angebrachte Rezeptionsverhalten gegenüber Welt und Natur. Damit begebe ich mich zugleich auf die Suche nach einer Erklärung für die immer wieder als nicht begründetes Dogma eingeführte Behauptung einer besonderen curiositas des 1. Jh. n. Chr.; Zur curiositas bei Plinius siehe u. a. Mary Beagon „The Curious Eye of the Elder Pliny“, in: Pliny the Elder: Themes and Contexts, hg. v. Roy K. Gibson u. Ruth Morello, Leiden/Boston 2011, S. 71–88; dies., „Situating Nature’s Wonders in Pliny’s Natural History“ oder Ágnes Darab, The Anecdotal Narration and Encyclopedic Thought of Pliny the Elder’s Naturalis Historia, Newcastle upon Tyne 2020 und dies., „Stories of Nature. On the Anecdotal Narration of Pliny’s Natural History“, Working Paper des SFB 980 Episteme in Bewegung, 25/2024, Freie Universität Berlin. nimmt man meine unterstellte zeitgenössische Reaktion auf die Wunder der Welt ernst, so sollte man diese anthropologische Konstante ja auch dem 1. Jh. unseres Millenniums zuschreiben. Zur Erklärung gewisser Hochzeiten der curiositas ließe sich dagegen das geopolitische Selbstverständnis, aber auch eine literaturinhärente Dynamik mit der Produktion von philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften und dem Zugänglichmachen von Wissen anführen, die Plinius’ Werk so gesehen an eine Schwelle wie zwischen einer Aufklärung und Romantik platzieren. Liest man die Naturalis Historia vor diesem Hintergrund als ein protreptisches Wahlprogramm für das Wunder(n), geht man zugleich davon aus, dass sie eine Antwort auf Autoren sein könnte, die sich unter entschieden anderen Prämissen mit demselben Themenkomplex von Natur, Welt und Wissen beschäftigten, und dass sie zudem an einen bestehenden Diskurs über das Wunder(n) anknüpft.

II. Staunen verlernen: die Entzauberung der Welt

Plinius’ unmittelbarer, nur etwa eine Generation älterer Zeitgenosse Seneca der Jüngere († 65 n. Chr.) legte mit seinen Naturales Quaestiones einen Entwurf der Welterklärung vor, in dem er eine Deutung für etliche Phänomene liefert, auf die auch Plinius zu sprechen kommt. Hier dient vor allem das philosophische Lehrgebäude der Stoa als zentraler Erklärungsschlüssel; wer über ihn verfügt, wird zum Insider, der einen exklusiven Einblick in die Geheimnisse der Natur und der Welt erlangt. Die durchweg bemühte Metapher des Ein- und Durchdringens steht für sich:

secretiora eius [sc. rerum naturae] intravi – „Ich habe die Geheimnisse der Natur der Dinge betreten“ (Sen. nat. 1 praef. 3); in interiorem naturae sinum – „in den inneren Schoß der Natur“ (praef. 7); introspicere et in deorum secreta descendere – „ganz hineinblicken und in die Geheimnisse der Götter eindringen“ (6, 5, 3) Der lat. Text folgt der Ausgabe Seneca. Natural Questions. Books I–III/IV–VII, übs. v. Thomas H. Corcoran, Cambridge (Mass.)/London 1971/1972.

Böse Zungen könnten Plinius’ streckenweise gegenteiliges Vorgehen als oberflächlich und naiv hinstellen und mit seinem schlichten enzyklopädischen „Ansatz, vielmehr die offensichtlichen Phänomene der Natur der Dinge lediglich aufzuzeigen, als unbefriedigenden Gründen nachzugehen“ (vgl. Plin. nat. 11, 8: nobis propositum est naturas rerum manifestas indicare, non causas indagare dubias), erklären. Entscheidend ist es aber zu sehen und zu würdigen, dass damit bei Plinius auch denjenigen Phänomenen Eingang in seinen Wissensspeicher gewährt ist, deren Geltungsstatus nach dem naturwissenschaftlichen oder philosophischen Explikationskriterium prekär ist.

Indem bei Plinius Geltung bisweilen qua Wunder(n) verliehen wird, bzw. die Naturwunder allein durch ihre Aufnahme in die Sammlung epistemischen Status erlangen, wird das Wunder(n) fester Anker innerhalb der Plinius’schen Epistemologie.

Vergleichbar mit dem Ansatz Senecas ist der des etwa 100 Jahre früher wirkenden Lukrez († 50er v. Chr.). An die Stelle des stoischen tritt das epikureische Weltmodell, mit dem sich die versteckte Matrix sämtlicher Phänomene der Welt aufschlüsseln lässt, und an die Stelle der Metapher der Penetration die der Aufklärung und Lichtbringung:

hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest/non radii solis neque lucida tela diei/discutiant, sed naturae species ratioque – „Diese Angst und die Dunkelheit in der Seele also ist nicht durch Sonnenstrahlen oder den helllichten Tag, sondern durch eine vernunftbegabte Betrachtung der Natur zu vertreiben“ (u. a. Lucr. 2, 59–61); O tenebris tantis tam clarum extollere lumen qui primus potuisti [sc. Epicurus] inlustrans commoda uitae (3, 1–2) – „Oh Epikur, der du als erster ein helles Licht in so großes Dunkel zu bringen schafftest und das Leben erleuchtetest“ Lat. Text nach Titus Lucretius Carus. De rerum natura libri VI, hg. v. Marcus Deufert, Berlin/Boston 2019.

Konkret bezeichnet die bildliche Dunkelheit eine – selbstverschuldete, eben wenn ohne Epikur und Lukrez lebende – Ignoranz der Erklärungen (ignorantia causarum, Lucr. 6, 54), ein Nicht-Wissen, das Plinius wiederum offen zur Schau stellt und ebenso in seine bunte Wissenslandschaft integriert (vgl. dazu u. a. Plin. nat. 8, 112: quacumque de causa – „aus welchem Grund auch immer“ oder 8, 129: cuius rei causa non prompta est – „warum das so ist, weiß kein Mensch“) Ebenso 2, 86; 2, 116; 4, 98; 6, 201; 10, 36; 12, 57 u. v. m.. Laut Lukrez würden aber eben daraus sowohl Furcht (terror/timor, Lucr. 2, 59 oder 6, 25) und Aberglauben (religio, Lucr. 1, 63 oder 6, 62) als auch grundloses Wundern (mirantur qua ratione – „sie wundern sich, was der Grund ist“, Lucr. 6, 59) entspringen.

Diese Verknüpfung von Nicht-Wissen und Wunder(n) ist etwa zeitgleich greifbar mit Ciceros Schrift De divinatione (um etwa 44 v. Chr.), in der er nicht nur einen römischen Diskurs über die Weissagung gründet, Wie es Mary Beard, „Cicero and Divination: The Foundation of a Latin Discourse“, JRS 76 (1986), S. 36–46 formuliert; zum Diskurs über das Wunder(n) siehe Matthias Grandl, Ciceroniana. Zur anekdotischen Strategie in Ciceros rhetoriktheoretischen und philosophischen Schriften, Wiesbaden 2022, v. a. S. 203–211. sondern auch einen über das Wunder(n) selbst. Das Wundern(n) im Kontext von Neuheit und Seltenheit, so leitet Cicero dort von einem Beispiel aus der Tierwelt ab, stamme in der Regel von Nicht-Wissen her (vgl. Cic. div. 2, 49):

„Du (sc. Quintus, Ciceros Bruder) hast die Geburt einer Mauleselin vorgebracht. Eine wundersame Begebenheit (res mirabilis), weil sie nicht oft passiert; aber wenn sie nicht passieren hätte können, dann wäre sie auch nicht passiert. Und das kann gegen alle (Wunder)Zeichen (ostenta) gelten, nämlich dass niemals passiert ist, was nicht auch passieren hätte können, und dass es, wenn es doch passieren konnte, dann auch nicht verwunderungswürdig (mirandum) ist. Das Nichtwissen von Gründen schürt angesichts von Neuem Verwunderung (causarum enim ignoratio in re nova mirationem facit); tritt dasselbe Nichtwissen (ignoratio) bei Altbekanntem auf, wundern wir uns dagegen nicht (non miratur).“ Die dt. Übersetzung ist entnommen dems., S. 203, Anm. 1, der lat. Text der Ausgabe Marci Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia. Fasc. 46. De divinatione. De fato. Timaeus, hg. v. Wolfram Ax (nach Otto Plasberg), Stuttgart 1965.

Schlussfolgernd hieße dies mit Cicero, dass Wissen und Wunder(n) sich regelrecht ausschlössen, letzteres bei ‚epistemischem Fortschritt‘ nachgerade obsolet würde. Im weitesten Sinne mag dies an Max Webers Begriffsentwurf der „Entzauberung der Welt“ erinnern, die er – auch mit Blick auf die Antike – für das beginnende 20. Jh. ansetzt. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 2021 (11917). Vielleicht sind es Momente wie diese, ein in gewissem Sinne gegenüber Sensationen abgestumpfter und allzu rationaler Blick auf die Phänomene der Welt, die zur Genese der Vorstellungswelt der Plinius’schen Naturalis Historia beigetragen haben. Vielleicht hat Plinius mit einigen seiner Meta-Betrachtungen über das so kontinuierlich und häufig beschworene Wunder(n) im Zusammenhang mit dem (nicht) Wissbaren der Welt und der Natur sogar direkt an diesen Diskurs anknüpfen wollen, zumal er retrospektiv einen wichtigen Brückenkopf zu dessen Weiterführung in Spätantike und Mittelalter, bei Autoren wie Augustinus, Gervasius von Tilbury oder Thomas von Aquin, darstellt. Siehe dazu Keagan Brewer, Wonder and Skepticism in the Middle Ages, London 2016; erneuter Dank an Jutta Eming für den Literaturhinweis. Vgl. dazu auch den Beitrag von Tilo Renz „Gesichertes Wissen neu erzählen – Die Kombinatorik der Wunder in Gervasius’ von Tilbury Otia imperialia (1214)“.

So kennen wir zwar auch von Plinius einschränkende Erwägungen über Reichweite und Grenzen, und somit auch eine nuanciertere Ausdifferenzierung des Wunder(n)s, wenn er beispielsweise von „märchenhaften Wundern“ (fabulosis […] miraculis, Plin. nat. 4, 89) spricht und sie mit der Geste eines Skeptikers bedenkt (vgl. ebd.: si credimus – „wenn wir gewillt sind zu glauben“) oder wenn er die Lesenden explizit darauf hinweist, dass nicht allem, was die, meist griechische, Tradition überliefert, das Wundern gebührt (vgl. 37, 31: legentes modo aequo perpetiantur animo, cum hoc quoque intersit vitae scire, non quidquid illi prodidere mirandum – „Die Leser mögen das nur mit Gleichmut ertragen, da es auch für das Leben wichtig ist zu wissen, dass nicht alles, was jene erzählt haben, Bewunderung verdient“). Hier scheint ganz nebenbei wieder die Vorstellung von der Naturalis Historia als einer Werbeschrift oder einem Lehrwerk für das – nunmehr korrekte – Wunder(n) auf, zumal es Teil eines lebensweltlichen Know-Hows ist. Zwar sieht Plinius weiterhin eine gewisse Kausalmacht verborgen (vgl. 9, 178: et in his quidem, tametsi mirabilis, est tamen aliqua ratio – „In all dem liegt unstreitig irgendein obschon wunderbarer Sinn“), doch bleibt diese eben verborgen, selbst erstaunlich und, auch im grammatischen Sinne, indefinit (aliqua). Zuletzt verknüpft Plinius das Wunder(n) ganz im Sinne des Ciceronischen Diskurses mit bestimmten Kriterien wie der Neuheit (vgl. Plin. 7, 6: aut quid non miraculo est, cum primum in notitiam venit? – „Oder was erscheint nicht als Wunderding, wenn es erstmals zur Kenntnis gelangt?“) und nimmt die Fäden einer Debatte um das Wahrscheinliche und (Un)Mögliche auf (vgl. ebd.: quam multa fieri non posse prius quam sunt facta iudicantur? – „Wie vieles wird als unmöglich beurteilt, bevor es wirklich geschehen ist?“); diese kommt im weitesten Sinne auch schon bei Cicero einer Fiktionalitätsdebatte Vgl. den Beitrag von Şirin Dadaş „Ohne Staunen keine Dichtung?“ gleich und lässt wiederum an das Ineinander von Buch und Natur, Natur und Text denken. Doch wo bei einem skeptischen Cicero die Grenzen von Wahrscheinlichkeit und Kontingenz gesetzt sind, feiert Plinius die Natur als unerschöpfliche Erfinderin, in deren grenzenlosem Spiel nichts unmöglich oder unglaublich scheint (vgl. 11, 6: nam mihi contuenti semper suasit rerum natura nihil incredibile existimare de ea – „Denn die Betrachtung der Natur hat mich immer dahin geführt, bei ihr nichts für unglaublich zu halten“ und 7, 32: Haec […] ludibria sibi, nobis miracula ingeniosa fecit natura – „Dies […] erschuf […] die erfinderische Natur, sich zum Spiel, uns aber zum Wunder“). Und wo bei Cicero letztendlich ein Wundern über das Wundern steht, steht bei Plinius explizit kein Wundern über das Wundern: Beim Anblick der Natur sei dies sozusagen naturgemäß und bedingungslos gegeben (wie oben im Zusammenhang mit den Meeresungeheuern, vgl. erneut 9, 2–3: quo minus miremur – „umso weniger wundern wir uns darüber“).

III. Staunen wiederlernen: die Verzauberung der Welt

Sowohl für Plinius’ Zeit als auch für unser 21. Jahrhundert wurde in den letzten Jahren mit der „Verzauberung“ der Welt getitelt: Jörg Lauster beschreibt damit die Geschichte des Christentums von ihren Anfängen im 1. Jh. bis ins 20. Jh., Ernst Peter Fischer wirbt damit für eine neue Einstellung gegenüber der scheinbar alles erklärenden modernen Naturwissenschaft. Ernst Peter Fischer, Die Verzauberung der Welt. Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften, München 2014 und Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014. Der programmatische Rückgriff auf Max Webers mitunter umstrittene These, dass „[d]ie zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung [als] Wissen davon oder […] Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne […] die Entzauberung der Welt“ Max Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 19. bedeute, ist offensichtlich. Auch für Plinius, insbesondere für die beschriebene Kopplung von Wissen und Wunder, könnte diese zunächst sozialgeschichtliche Kategorie ex negativo eine gute Beschreibgröße sein. Da es mir vornehmlich um die Arbeit am Begriff der „Verzauberung“ geht, kann ich an dieser Stelle auf zahlreiche andere Ansätze zum Wunder(n) in der Moderne und Vormoderne nicht eingehen; vgl. u. a. Natascha Adamowsky, Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens, München 2010; Lorraine Daston und Katharine Park, Wonders and the Order of Nature. 1150–1750, New York 1998 oder Nicola Gess, Staunen. Eine Poetik, Göttingen 2019. Zu einer auf eine grundlegende Weltsicht und Umgangsform ausweitende Anverwandlung des Begriffs hat auch Rita Felski mit ihrer Schrift Uses of Literature beigetragen, in der sie für die Beschreibung ihres innovativen, auch subjektiven, Zugangs zu Literatur und Kunst die Weber’sche Kategorie „enchantment“ einführt. Rita Felski, Uses of Literature, Malden/Oxford 2008, S. 51–76. „Enchantment“ als Teil einer Rezeptions-, aber auch Perzeptionsästhetik (und damit auch Kognition und Wissen betreffend) spannt sich zwischen Text und Lesenden auf, ganz wie sich der Komplex von Wissen und Wunder zwischen Plinius und der Natur sowie, gespiegelt, zwischen Plinius’ Buch von der Natur und den Lesenden aufspannt:

„Enchantment is soaked through with an unusual intensity of perception and affect; it is often compared to the condition of being intoxicated, drugged, or dreaming. Colors seem brighter, perceptions are heightened, details stand out with hallucinatory sharpness. […] Time slows to halt: you feel yourself caught in an eternal, unchanging present. Rather than having a sense of mastery over a text, you are at its mercy. You are sucked in, swept up, spirited away, you feel yourself enfolded in a blissful embrace.“ Rita Felski, Uses of Literature, S. 55.

Dementsprechend macht Plinius schon zu Beginn seines Werkes klar, dass Welt- und Naturbetrachtung und, weiterhin gespiegelt, die Lektüre seiner Naturbücher ein Akt des Wachens und der Wachsamkeit sei (Plin. nat. praef. 18): vita vigilia est – „nur das Wachsein bedeutet Leben (oder: Leben ist Wachsam-Sein)“. Zu diesem vielbesprochenen Slogan siehe u. a. Mary Beagon „The Curious Eye of the Elder Pliny“, oder programmatisch als Titel des Bandes: Vita Vigilia Est: Essays in Honour of Barbara Levick, hg. v. Edward Bispham u. Greg Rowe, London 2007.

Wachsam sein gegenüber den großen wie kleinen Dingen in der Welt, seinen Blick schärfen für das Unglaubliche, aber Mögliche, seine Akzeptanz schulen für die epistemische Geltung des Wunderbaren und das Wundern ein stückweit wiedererlernen.

Dies sind die Prospekte des Plinius, dies ist die Sphäre der Verzauberung, die die Integration vielfältiger und differenzierter Wissensformen und -darstellungen erst möglich macht.

Etwa nach zwei Dritteln seines kolossalen Werkes bemerkt Plinius, dass eigentlich schon ein einziges Buch reichen würde, die Wundergabe der Natur zu erkennen und sich von ihr entzücken zu lassen (vgl. 22, 1: Implesse poterant miraculum sui natura atque tellus reputantium vel prioris tantum voluminis dotes – „Völlig Genüge getan haben konnten Natur und Erde der von ihnen ausgehenden Wunderkraft, zöge man auch nur die im vorhergehenden Buch erwähnten Gaben […] in Betracht“); aber, so die komparativ-ködernde Ankündigung, es komme noch viel mehr und viel wunderbarer (vgl. ebd.: sed quanto plura restant quantoque mirabiliora inventu!). „Curiouser and curiouser“: Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass, London 2016 (11865), S. 19. Das Wunderland Buch und Natur ist noch lange nicht am Ende – eine kontinuierlich von Plinius evozierte Vorstellung von der Welt, von der wir uns, so meine ich, auch heute noch gerne mitreißen, affizieren und verzaubern lassen.

Matthias Grandl ist Latinist und arbeitete als Post-Doc am Sonderforschungsbereich 980 Episteme in Bewegung.

Dieser Beitrag ist Teil der Serie Wunder und Wissen.