Wie erzählt man dem Kaiser etwas Erstaunliches, ohne zu lügen?
Im dritten Buch der Otia imperialia (etwa: Kaiserliche Mußestunden, entstanden 1214) des englischen Gelehrten Gervasius von Tilbury berichtet ein Erzähler von ungewöhnlichen Begebenheiten in der Stadt Neapel. Wiedergegeben wird das zwölfte Kapitel des dritten Buches der Otia imperialia nach der Ausgabe: Gervase of Tilbury, Otia imperialia. Recreation for an Emperor, hg. u. übers. v. Shelagh E. Banks und James W. Binns, Oxford 2002, S. 578–582. Nachweise stehen mit der Sigle ‚Ot‘ gekennzeichnet im fortlaufenden Text. Eine dieser Begebenheiten habe er sogar selbst erlebt. Anfangs habe er nicht gewusst, welche Bedeutung die Begebenheit bekommen würde, und indem er zu erzählen beginnt, behält er das nun seinerseits zunächst für sich: Ein Freund habe ihn im Jahr 1190 in Salerno aufgesucht mit dem Ziel, auf dem Seeweg weiterzureisen. Sie seien nach Neapel gefahren, um die Überfahrt des Freundes zu organisieren, und hätten dort bereits nach einer Stunde eine Schiffspassage für ihn bekommen. Auch der Erzdiakon von Neapel, dessen Gast sie gewesen seien, habe sich erstaunt gezeigt über das Tempo ihres Erfolges. Er habe dann aber rasch eine Erklärung gefunden: Sie hatten Neapel auf der rechten Seite des Durchgangs durch das Stadttor, vermutlich ein Vorgängerbau der heutigen Porta Nolana (Titelbild), Die Abbildung zeigt die Porta Nolana im heutigen Zustand; in dieser Form ist sie im 15. Jahrhundert entstanden, also erst nach der Schrift, um die es in diesem Beitrag geht. betreten. An dieser Seite des Durchgangs habe Vergil, so ihr Gastgeber, einen fröhlich dreinblickenden Marmorkopf angebracht, von dem ein Zauber ausgehe: Jeder Besucher, der die Stadt auf der rechten Seite des Tordurchgangs betrete und diesen Kopf passiere, erreiche glücklich binnen kurzer Frist seine Ziele. Die Ereignisse geben, so schließt sich der Erzähler dem Erzdiakon an, ein Beispiel für die noch immer wirksame Zauberkraft Vergils in Neapel.
Worum es in der Geschichte geht, wird erst an ihrem Ende erklärt: Anhand einer aktuellen Erfahrung wird von der schon jahrhundertealten Wirkmacht eines Objekts berichtet, die über vertraute natürliche Vorgänge hinausweist und auf einen Zauber Vergils zurückgeführt wird. Indem Rezipierende über den eigentlichen Gegenstand zunächst im Ungewissen gelassen werden, ähnelt der Verlauf ihres Erkenntnisgewinns über die Hintergründe der Geschichte jenem des Erzählers. Außerdem wird durch die späte Erwähnung des wunderwirkenden Marmorkopfes in der Erzählung die zeitliche Folge von Ursache (Zauber) und Wirkung (schnelles Auffinden einer Schiffspassage) vertauscht. Die chronologische Ordnung der Erzählung wiederholt damit die Erfahrung des Erzählers. Die Geschichte des Marmorkopfs und des Zaubers, der ihm innewohnt, werden nachträglich erzählt.
Das Wissen vom Wunderbaren
Die kurze Erzählung ist eine von vielen, die Gervasius in den Otia imperialia zusammenstellt. Der Blog-Beitrag schließt an einen gemeinsam mit Falk Quenstedt verfassten Aufsatz an und erweitert diesen um die antiken und mittelalterlichen rhetorischen Schriften, auf die Gervasius vermutlich Bezug nimmt: vgl. Falk Quenstedt und Tilo Renz, „Kritik und Konstruktion des Wunderbaren in den Otia imperialia des Gervasius von Tilbury“, in: Das Wunderbare. Dimensionen eines Phänomens in Kunst und Kultur, hg. v. Stefanie Kreuzer und Uwe Durst, unter Mitarbeit von Caroline Frank, Paderborn 2018, S. 251–262. Verfasst hat Gervasius den Text für den Welfen Otto IV., der in jener Zeit mit den Staufern Philipp und Friedrich um die Kaiserkrone im römisch-deutschen Reich ringt, zu dem auch Neapel gehört. An seinem Herrschaftssitz Braunschweig hält Otto aufwändig Hof, und es gelingt ihm, Gelehrte und Literaten dort zu versammeln. Teil des Hoflebens ist das gelehrte Gespräch, als dessen Grundlage und Ausgangspunkt vermutlich auch die Otia imperialia gedient haben.
Der umfangreiche Text ist in drei Teile gegliedert, deren erster und zweiter von Geschichte und Topografie der damals bekannten Welt berichten und deren dritter eine große Zahl von Mirabilien schildert: unvertraute Naturphänomene und künstlich hergestellte Gegenstände mit besonderer Wirkmacht, die die Verwunderung der Zeitgenossen hervorrufen und über die schon in der Antike Wissen zusammengestellt wurde. Schon in der Antike werden natürliche und künstlich hergestellte Phänomene dem Wunderbaren zugerechnet. Hesiod beispielsweise schildert in der Theogonie erstaunliche Naturphänomene, die auf Gaia zurückgehen, und Mirabilien, die Zeus kunstfertig geschaffen hat (vgl. dazu den Beitrag von Christian Vogel „Hesiods Welt der Wunder“. Indem die Otia imperialia den Kaiser über diese Phänomene informieren, statten sie ihn mit Hintergrundwissen für Gespräche am Hof aus; außerdem können die Schilderungen des Gervasius Debatten über die Plausibilität und den Wahrheitsgehalt der einzelnen Episoden auslösen oder das Erzählen weiterer Geschichten über vergleichbare Phänomene nach sich ziehen.
Dem Abschnitt der Otia imperialia über Mirabilien ist eine kurze Vorrede beigegeben, die eine Reihe von Hinweisen darauf enthält, was mirabilia in epistemischer und ästhetischer Hinsicht eigentlich ausmacht. Da analytische Aussagen dieser Art über das Wunderbare in der Zeit um 1200 selten sind, kommt der kurzen Passage für die Rekonstruktion des mittelalterlichen Wissens vom Wunderbaren und des Anteils, den die spezifische Darstellungsform daran hat, große Bedeutung zu. Daher beginnen beispielsweise auch Daston und Park die Ausführungen über das Mittelalter in ihrer grundlegenden diachronen Studie zum Wunderbaren mit Gervasius’ Otia imperialia; vgl. Lorraine Daston und Katharine Park, Wonder and the Order of Nature. 1150–1750, New York 1998, S. 21–25.
In der Vorrede zum dritten Buch wird zunächst versichert, dass die folgenden Erzählungen keine Unwahrheiten enthalten, Wörtlich ist von den Lügen erfundener Geschichten (fabularum mendaciis, Ot S. 558) die Rede, die der Text nicht enthalte. denn mit solchen sollte der Herrscher seine freie Zeit nicht verschwenden. Die Glaubwürdigkeit der Mirabilien sei durch hohes Alter oder durch schriftliche Quellen abgesichert oder ließe sich durch Augenzeugen-Berichte, die jederzeit erneuert werden könnten, bestätigen. Es heißt: cotidiane conspectionis fides oculata testatur, Ot S. 558. Die Bestätigung durch Augenzeugenschaft ist leicht möglich, denn Gervasius berichtet im Folgenden nicht von Wunderdingen ferner Regionen, sondern von mirabilia aus allen Gegenden des Landes. mirabilia singularium prouinciarum, Ot S. 558. Damit unterstreichen die Episoden die Vielfalt und Größe des römisch-deutschen Reiches, nach dessen Herrschaft Otto zu jener Zeit strebt; zugleich kann mit der Beschränkung auf heimische Mirabilien die Überprüfbarkeit vergleichsweise leicht zur Grundlage der nachfolgenden Mirabilien-Darstellung gemacht werden.
Am Schluss der einleitenden Passage wird Augenzeugenschaft noch einmal aufgenommen und stärker gewichtet als am Anfang. Erneut betont Gervasius, dass alle seine Mirabilien-Berichte auf verlässlichen Zeugnissen beruhen. Würde es sich dagegen um Phänomene handeln, die in der Ferne zu beobachten seien und für die Gervasius und seinen Leserinnen und Lesern kein Wissen aus erster Hand zur Verfügung stünde, hätten sie grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder könnten sie Wunder-Erzählungen als falsch zurückweisen, was Gervasius mit folgendem Beispiel näher erläutert: „Würde das alles von irgendeinem indischen Stein behauptet, über den wir hierzulande nichts Näheres in Erfahrung bringen können, dann würden wir eine solche Behauptung wahrscheinlich für eine Lüge halten“. Die Übersetzung wird zitiert nach: Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden, 2. Halbband, eingel., übers. u. mit Anm. versehen v. Heinz Erich Stiene, Stuttgart 2009, S. 310f. Im Original heißt es: Hec omnia si de aliquo Indico lapide narrentur, cuius experimentum ad nos peruenire non posset, profecto mendacium iudicaremus, Ot S. 562. Oder die Rezipierenden müssten sich von einem überwältigenden Staunen, das keine Reflexion mehr zuließe, mitreißen lassen. aut certe admirationis stupore teneremur, Ot S. 562; Übs. T.R.: oder wir werden von einer durch Bewunderung ausgelösten Erstarrung erfasst. Auch den von der Forschung des 20. Jahrhunderts als Wunder des Ostens („Marvels of the East“ Vgl. Rudolf Wittkower, „Marvels of the East. A Study in the History of Monsters”, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 159–197.) charakterisierten Phänomenen wird hier die Fähigkeit zugesprochen, Staunen hervorzurufen. Die Mirabilien der Ferne lassen sich aber, nach Gervasius, nicht auf Echtheit überprüfen, und sie scheinen darüber hinaus auch keine rational distanzierte Betrachtung zuzulassen. Damit führt Gervasius bei aller Kürze der Darstellung zwei Differenzierungen des Wunderbaren ein.
Erstens unterscheidet er Wunder-Berichte, deren Wahrheit und Geltung überprüft werden können, von solchen, bei denen das nicht möglich ist. Letztere schließt er aus den Mirabilien aus, von denen in seinem Text die Rede ist. Gervasius greift hier explizit Überlegungen des Augustinus, mithin des frühchristlichen Wunder-Diskurses, auf. Vgl. Ot S. 560. Augustinus betrachtet in De civitate Dei nur Phänomene, die sich im Mittelmeerraum befinden, wo sie unschwer von der originären Zielgruppe seiner Schrift aufgesucht werden können. Vgl. Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat. De civitate Dei, Bd. 2, übers. von Carl Johann Perl, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1979, XXI, 5, S. 656. Nach Augustinus besitzen Mirabilien die Fähigkeit – auch das übernimmt Gervasius von ihm –, die Macht Gottes zu vergegenwärtigen. Vgl. Augustinus [Anm. 12], XVI, 8, S. 116; sowie Ot S. 616. Indem ihnen diese Fähigkeit zugesprochen wird, muss auch ihrer Authentizität im christlichen Kontext besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Zur Bedeutung der Generierung von Geltung für Mirabilien im Hochmittelalter vgl. auch Daston/Park [Anm. 5], S. 60–66. Zweitens trennt Gervasius Mirabilien, die grundsätzlich mit rationaler Betrachtung einhergehen können, vielleicht deren Ausgangspunkt bilden, von solchen, die Rationalität auszuschließen scheinen. Letztere sollten nicht zum Wissen eines Herrschers gehören und werden von Gervasius daher nicht in das Buch aufgenommen. Skeptische Überlegungen, dass Mirabilien nicht notwendig mit dem Erwerb von Wissen einhergehen, sind seit der Antike, zum Beispiel bei Cicero, vgl. für die von Cicero in De divinatione vertretene Position, Verwunderung könne lediglich Ausdruck der Unkenntnis von natürlichen Ursachen sein, den kommenden Blog-Beitrag von Matthias Grandl. Teil der Reflexion über das Wunderbare.
Noch eine weitere Differenzierung führt Gervasius in der Vorrede ein: Er unterscheidet ausdrücklich zwischen miracula und mirabilia. Wunder im engeren Sinne (miracula) seien als übernatürliche Phänomene anzusehen und auf das Wirken göttlicher Mächte zurückzuführen. miracula dicimus usitatius que preter naturam diuine uirtuti ascribimus (Ot S. 558; Übs. T.R.: Wunder nennen wir gewöhnlich, was über die Natur hinausgeht und was wir göttlicher Macht zurechnen). Mirabilien dagegen seien Teil dessen, was in der natürlichen Welt vorkomme, und gingen doch über das hinaus, was Menschen bekannt sei. Mirabilia uero dicimus que nostre cognicioni non subiacent, etiam cum sunt naturalia (Ot S. 558, Übs. T.R.: Als Mirabilien bezeichnen wir Phänomene, die wir nicht kennen, die aber durchaus der Natur zugehören). Offenkundig rechnet Gervasius auch die Zauberkraft Vergils und die Wirkmacht, mit der dieser Objekte ausstatten kann, zu letzteren. Damit bemüht sich Gervasius um eine trennscharfe Unterscheidung, Vgl. zu Gervasius’ Differenzierung von miraculum und mirabile Caroline Walker Bynum, „Miracles and Marvels. The Limits of Alterity“, in: Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. v. Franz J. Felten und Nikolaus Jaspert, Berlin 1999, S. 799–817, hier S. 803f. In die anschließende Reihe von Erzählungen nimmt Gervasius allerdings auch solche auf, die aus legendarischem Erzählen bekannt sind und daher den miracula zugerechnet werden können, z.B. die Kreuzesholzlegende (vgl. Ot S. 656–660) und andere Reliquien-Erzählungen (vgl. etwa Ot S. 608). wo Augustinus, dem er hinsichtlich der Überprüfbarkeit von Mirabilien folgt, Verbindungen herstellt. Augustinus bezieht die Begriffe miraculum und mirabile in seinen Ausführungen aufeinander: Dass für viele Mirabilien keine Erklärung gegeben werden kann, ist ihm Beleg dafür, dass auch Mirakel nicht am Fehlen einer vernunftgemäßen Erklärung gemessen werden können; vgl. Augustinus [Anm. 12], XXI, 5, S. 656.
Die Bedeutung der Feststellung von Wahrheit und Geltung als Grundlage von Gervasius’ Erzählungen vom Wunderbaren kann als Beispiel für ein spezifisch mittelalterliches Verständnis des Wunderbaren als Wissensmodus kaum hoch genug veranschlagt werden. Die Bestimmung von Mirabilien als Gegenstände des Wissens und das Aussondern von staunenswerten Phänomenen, die der kritischen Überprüfung nicht standhalten, bilden bei Gervasius die Grundlage aller weiteren Reflexion über das Wunderbare. Im Unterschied zu dichtungstheoretischen Debatten der Frühen Neuzeit geht es bei Gervasius also nicht um das Erzeugen des Eindrucks von Wahrscheinlichkeit mit den Mitteln der Fiktion; Für italienische Poetiken der Renaissance, die dagegen einen positiv bewerteten Begriff der Fiktion zur Grundlage haben, vgl. den Beitrag von Şirin Dadaş „Ohne Staunen keine Dichtung?“fabulae, Vgl. Anm. 6. also Erzählungen, die das Fingieren einschließen, lehnt Gervasius ausdrücklich ab. Vielmehr geht es ihm um Phänomene, die nachweislich in der beschriebenen Weise existieren. Dass es sich beim Wunderbaren um gesichertes Wissen handelt, bildet die Grundlage aller weiteren Gedanken, die Gervasius seinen Leserinnen und Lesern über mirabilia mitteilt.
Wunderbares sprachlich neu ordnen
Neben der Überprüfbarkeit ist nach Gervasius noch ein anderes Merkmal für Mirabilien-Darstellungen zentral: Das Dargestellte müsse neu sein bzw. es müsse als etwas Neues präsentiert werden (nova, Ot S. 558). Mit dieser Anforderung an Mirabilien reagiert Gervasius auf das von ihm angenommene menschliche Verlangen (auiditas, Ot S. 558) nach Neuem. Er nennt vier Ursachen dafür, dass ein Gegenstand als neu eingeschätzt werden könne: ein schöpferischer Vorgang (creatio, Ot S. 558), das erst seit Kurzem wahrnehmbare Ergebnis eines solchen Vorgangs (euentus, Ot S. 558), die Seltenheit des Phänomens (raritas, Ot S. 558) sowie seine Unvertrautheit (inauditus, Ot S. 558). Mit diesen Ursachen wird Neuheit an die Eigenschaften des mirabile selbst zurückgebunden. Mit dem Begriff creatio ist an dieser Stelle nicht die Gestaltung einer Darstellung des Wunderbaren, etwa in Form einer Wunder-Erzählung, gemeint, sondern seine eigentliche Hervorbringung durch natürliche oder künstlerische Vorgänge. Offenbar geht es hier also um das Auffinden von Mirabilien, die bisher noch nicht beschrieben worden sind. Falk Quenstedt hat die Integration von Erzählelementen aus anderen kulturellen Kontexten als mögliche Quelle der Innovation stark gemacht, vgl. Falk Quenstedt, Mirabiles Wissen. Deutschsprachige Reiseerzählungen um 1200 im transkulturellen Kontext arabischer Literatur, Wiesbaden 2021, S. 34f.
Mit dem unmittelbar vorausgehenden Satz aber zielt Gervasius auf die Präsentation des Wunderbaren und damit auf Verfahren der Darstellung. Auf das bereits angesprochene Verlangen des Publikums nach Neuem müsse folgendermaßen reagiert werden: antiquissima (zu ergänzen: res, T.R.) commutari necesse erit in noua, naturalia in mirabilia, apud plerosque usitata in inaudita (Ot S. 558); das ist zu übersetzen als: Es wird notwendig sein, die ältesten Gegenstände in neue, die in der Natur häufig anzutreffenden Dinge in erstaunliche und die bei den meisten gebräuchlichen Dinge in unbekannte zu verwandeln. Der Satz beschreibt Transformationen der Merkmale von Gegenständen (res), die als solche gegeben sind, und diese Transformationen sollen – so muss man unterstellen – durch die Darstellung der entsprechenden Gegenstände erreicht werden. Das Verb commutari bedeutet in einem allgemeinen Sinn ‚Veränderung‘ oder ‚Umwandlung‘.
Gervasius führt nicht aus, in welcher Weise Gegebenes durch die Darstellung zu verändern ist. Aus seiner Aufzählung möglicher Verwandlungen geht aber hervor, dass das Wunderbare vor dem Hintergrund von Gegenständen Kontur gewinnt, denen die Eigenschaften der Neuheit, des Staunen-Erregens und der Unvertrautheit nicht zukommen. Die Menge an Phänomenen, von denen sich das Mirabile abhebt, gehört entweder nicht zum Wunderbaren oder die Phänomene gehörten ehemals dazu, haben die Merkmale des Wunderbaren aber verloren, weil sie im Laufe der Zeit bekannt und vertraut geworden sind. Die Darstellung eines mirabile muss sich also von bestehenden Darstellungen anderer Phänomene oder anderer Mirabilien unterscheiden, vielleicht auch über diese hinausgehen. Zu möglichen Formen der Abweichung von vorausgehenden Darstellungen des Wunderbaren mit überbietender Funktion vgl. Jutta Eming, „Wunder über Wunder. Immanente Überbietung im mittelhochdeutschen Roman“, in: Jenseits der Epigonalität. Selbst- und Fremdbewertungen im Artusroman und in der Artusforschung, hg. v. Cora Dietl, Christoph Schanze und Friedrich Wolfzettel, Berlin 2020, S. 225–243, hier S. 234f. sowie den Beitrag von Jutta Eming „Drachengold“. Denkbar ist zum Beispiel, dass die Unterscheidung durch Steigerung der Quantität, also etwa durch die Ausweitung einer Beschreibung, durch schiere Ausführlichkeit, erreicht wird. Denkbar ist auch, dass Merkmale von Mirabilien, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen, mit dem Ziel der Überbietung additiv aneinandergereiht werden. So können etwa Abweichungen von vertrauten natürlichen Vorgängen mit kostbaren Materialien und technischer Raffinesse verknüpft werden.
Eine Veränderung der Darstellung des Wunderbaren kann aber auch auf Weisen, die zunächst nicht an Formen der Überbietung denken lassen, erreicht werden, zum Beispiel durch den temporären Entzug des mirabilen Phänomens. Exemplarisch wird das in einer Geschichte deutlich, die Gervasius ins dritte Buch der Otia imperialia aufgenommen hat: Auf einem Hügel in der Grafschaft Gloucestershire versorgt ein plötzlich erscheinender Mundschenk erschöpfte Jagende mit kraftspendendem Nektar aus einem kostbar geschmückten Trinkhorn. Vgl. Ot S. 672–674. Durch Wiederholung erlangt die zunächst höchsterstaunliche Erscheinung des Mundschenks mit dem Trinkgefäß große Bekanntheit und wird zu einem alltäglichen Phänomen (celeberrimum ac cotidianum, Ot 674). Eines Tages aber verschwindet sie, als ein Jäger das Horn, nachdem er die Erfrischung zu sich genommen hat, einfach mitnimmt. Der Graf von Gloucestershire lässt die Tat allerdings nicht durchgehen, sondern holt das Trinkhorn zurück und schenkt es dem König. Was nach der erzwungenen Unterbrechung aus dem Trankwunder wird, in das das Horn eingebunden war, ob es beispielsweise mit einem anderen Horn fortgesetzt wird oder ob es mit ebendiesem Horn an anderer Stelle, womöglich durch einen anderen Akteur und in anderer Form wieder aufgenommen wird, wird in der Erzählung nicht ausgeführt. Transformiert wird das Mirabile bereits durch die Unterbrechung seines habitualisierten Ablaufs und durch seine zumindest temporäre Abwesenheit. Meine Überlegungen und dieses Beispiel machen deutlich, dass zunächst offenbleiben muss, ob Gervasius bestimmte erzählerische Verfahren der Modifikation des Wunderbaren favorisiert. In der Einleitung zum dritten Buch äußert er sich dazu nicht ausdrücklich.
Mit der Verbform commutari aber, mit der Gervasius die geforderte Veränderung der Darstellung bezeichnet, gibt er doch – so meine ich – einen Hinweis. Neben der recht unspezifischen ‚Verwandlung‘ durch Sprache kann das Wort auch den Vorgang der ‚Vertauschung‘ von Elementen der Darstellung meinen. In diesem Sinne verstanden wird mit commutari ein einigermaßen genau bestimmtes sprachliches Verfahren angesprochen, das in antiken und mittelalterlichen Rhetoriken beschrieben wird. Für mittelalterliche Formen der Kombinatorik, die im Unterschied zur im Folgenden untersuchten schulrhetorischen Tradition nicht vom Wort, sondern vom Buchstaben ausgehen vgl. Anita Traninger, „Art. Kombinatorik“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1998, Sp. 1154–1163, hier: Sp. 1157f.
Commutatio in der mittelalterlichen Rhetorik
Die antike Rhetorica ad Herennium (frühes 1. Jh. v. Chr.), die auch im Mittelalter rezipiert wird, bezeichnet mehrere Verfahren, die mit dem Austauschen von sprachlichen Elementen zu tun haben, mit dem Wort commutatio. Stets ist damit eine Steigerung der sprachlichen Vielfalt gemeint. So ist beispielsweise von Vertauschung die Rede, um die Änderung der Stillage zu beschreiben mit dem Ziel, den Abwechslungsreichtum des sprachlichen Ausdrucks zu erhöhen. Sed figuram in dicendo commutari oportet, ut gravem mediocris, mediocrem excipiat attenuata, deinde identidem commutentur, ut facile satietas varietate vitetur, Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch, hg. und übs. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf und Zürich 1998, 4, 16, S. 208; Übs. Nüßlein: „Aber man muß die Stilart beim Sprechen wechseln, damit auf die erhabene die gemäßigte folgt, auf die gemäßigte die schlichte, und daß dann wieder ebenso gewechselt wird, damit leicht eine Übersättigung vermieden wird durch Abwechslung“ (S. 209). Für Ausführungen zu ein und demselben Gegenstand, die notwendig Wiederholungen einschließen, empfiehlt die Rhetorica ad Herennium das Verfahren der expolitio, das Vertauschung auf unterschiedlichen Ebenen meint: Sie wird gleichermaßen auf die Wortwahl sowie auf die Art des Vortrags und der Erörterung bezogen. Commutabimus tripliciter: verbis, pronuntiando, tractando, Rhetorica ad Herennium, 4, 54, S. 282; Übs. Nüßlein: „Wir verändern auf dreifache Weise: in der Wortwahl, in der Vortragsart und in der Art der Erörterung“ (S. 283). Damit ist ein Austausch auf paradigmatischer Ebene gemeint, der über die verwendeten Wörter hinausgeht und zum einen die Sprechweise und die eingesetzten Gesten einbezieht. Zum anderen kann im Zuge einer Rede auch die Art der Adressierung der Zuhörenden verändert werden, etwa indem der Redner sich ihnen in aufmunterndem Ton zuwendet. Vgl. Rhetorica ad Herennium, 4, 54, S. 284ff.
Schließlich wird die commutatio in der Rhetorica ad Herennium auch im Zusammenhang des Austauschs von Teilen einer Rede, also von syntagmatischen Veränderungen, erwähnt. Im Ablauf einer Gerichtsrede könne der Beginn der Beweisführung vorgezogen und die eigentlich an erster Stelle stehende Darlegung des Sachverhalts nachgeschoben werden, wenn das dem Ziel der Rede diene (also zum Beispiel, wenn die Darstellung eines Sachverhalts wenig glaubhaft sei). Si narratio est parum probabilis, exordiemur ab aliqua firma argumentatione. His commutationibus et translationibus saepe uti est, cum ipsa res artificiosam dispositionem artificiose commutare cogit, Rhetorica ad Herennium, 3, 18, S. 150; Übs. Nüßlein: „Ist die Darlegung des Sachverhalts zu wenig glaubhaft, dann beginnen wir mit einer kräftigen Beweisführung. Diese Veränderungen und Umstellungen muß man oft notgedrungen vornehmen, wenn die Sache selbst dazu zwingt, die kunstvolle Anordnung kunstvoll zu verändern“ (S. 151).
In mittelalterliche Rhetorik-Lehrwerke werden die genannten Facetten der commutatio aufgenommen. Ein prominentes Beispiel ist das um 1080 entstandene Breviarium des Alberich von Montecassino, das vollständig der Ausdrucksvariation durch den paradigmatischen Austausch von Textteilen gewidmet ist. Hier geht es um das Variieren von Wortmaterial und von Sentenzen aus dem persönlichen Lexikon des Schreibers. Vgl. Franz Josef Worstbrock, Monika Klaes und Jutta Lütten, Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters, Bd. 1, München 1992, S. 12. Vgl. auch Alberico di Montecassino, Breviarium de dictamine, hg. v. Filippo Bognini, Florenz 2008. Das Breviarium greift damit einen bestimmten Teilaspekt der Verfahren auf, die in der Rhetorica ad Herennium mit dem Begriff der commutatio verbunden werden.
Auch in der Poetria nova, die der englische Rhetoriker Galfried von Vinsauf vermutlich am Ende des 12. Jahrhunderts verfasst, geht es an prominenter Stelle um die Vertauschung von Darstellungselementen. Vgl. Ernesto Gallo, The Poetria Nova and its Sources in Early Rhetorical Doctrine, La Hague und Paris, 1971. Allerdings fehlt hier der Begriff commutatio, und im Unterschied zu Alberich von Montecassino meint der beschriebene Vorgang nicht die lexikalische Variation. Vielmehr behandelt Galfried in einem Abschnitt über die Ordnung des Erzählten, die dispositio, auch die Reihenfolge, den ordo, von Erzählelementen. Er geht dabei auf die Möglichkeit ihrer Vertauschung ein und beschreibt sie mit den Verben vertere (Pn V. 97) und transponere (Pn V. 98). Damit scheint Galfried bei einer bestimmten Form der commutatio, die die Rhetorica ad Herennium vorstellt, Anleihen zu machen: Wie bereits erläutert, ist die Veränderung der syntagmatischen Abfolge einer Rede dort eine Spielart der commutatio. Ausgerechnet im Zusammenhang mit Veränderungen des ordo von Erzählungen verweist Galfried auf einen staunenswerten Gegenstand, von dem eine Vervielfältigung von Erzählsträngen ihren Ausgang nehmen könne. Er bedient sich dazu der Bildlichkeit des Wachstums einer Pflanze: […] et mira succrescit origine ramus / In ramos, solus in plures, unus in octo (Pn V. 102f.; Übs. T.R.: und vom wunderbaren Ursprung wächst ein Ast hervor / [und teilt sich] in Zweige, ein einzelner in viele, einer in acht). Zumindest auf der Ebene der Metaphorik, mit der der rhetorische Prozess erläutert wird, wird hier also die Darstellung von Mirabilien einbezogen. An die Ausführungen des Gervasius erinnert zudem, dass Galfried dem kunstvollen Umgang mit der Reihenfolge einer Erzählung unter anderem das Potential zuspricht, etwas Altes in etwas Neues verwandeln zu können: Et facit ut fiat res […] vetusta novella (Pn V. 122–124; Übs. T.R.: Und bringt es mit sich, dass aus einem alten Gegenstand ein neuer wird). Dem Dichter, der entscheiden kann, ob er vom Anfang oder vom Ende einer Ereigniskette her zu erzählen beginnt, spricht Galfried großes gestalterisches Potential zu, indem er seine Kunst mit der eines Magiers vergleicht: [ars] ludit quasi quaedam praestigiatrix (Pn V. 121; Übs. T.R.: [seine Kunst] spielt wie irgendeine Gauklerin). Vgl. Hans Jürgen Scheuer, „Sichtbarkeit und Evidenz. Strategien des Vor-Augen-Stellens im Mauritius von Craûn und in der Poetria Nova Galfreds von Vinsauf“, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium, hg. v. Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin H. Jones, London 2009, Berlin 2011, S. 192–210, hier: S. 202f.
Fazit – gesichertes Wissen und sprachliche Innovation
Der Durchgang durch die Rhetorik-Lehrwerke zeigt, dass mit commutatio im Mittelalter unterschiedliche Formen sprachlicher Varianz gemeint sein können. Nicht nur das Verändern von Worten und Wendungen gehört dazu, sondern auch der freie Umgang mit der Reihenfolge von Elementen einer Erzählung. Um bei der Darstellung von Mirabilien den Eindruck des Neuen zu erzeugen, scheint Gervasius zunächst die Abweichung vom Vorausgegangenen und die Vielgestaltigkeit in einem allgemeinen Sinne zu empfehlen. Der Stellenwert der Abweichung für mittelalterliche poetologische Reflexionen ist in der Forschung umstritten. Skeptisch dazu Maximilian Benz, „Elemente einer historischen Poetik des Staunens um 1200“, in: Poetiken des Staunens. Narratologische und dichtungstheoretische Perspektiven, hg. v. Nicola Gess, Mireille Schnyder, Hugues Marchal und Johannes Bartuschat, Paderborn 2019, S. 171–187; er bezieht sich allerdings nur am Rande auf Gervasius von Tilbury (vgl. ebd., S. 173f., Anm. 10). Dass er dabei das Verb commutare verwendet, kann als Hinweis auf den gezielten Einsatz bestimmter sprachlicher Techniken verstanden werden. Der Blick in die antiken und mittelalterlichen Rhetoriken erhärtet die Vermutung, dass es Gervasius um die Möglichkeit geht, das Wunderbare mittels sprachlicher Verfahren der Vertauschung immer wieder neu und staunenswert erscheinen zu lassen. Mit der Vertauschung benennt Gervasius eine ganz grundlegende sprachliche Operation, die andere, wie etwa Steigerung oder Überbietung, einschließen, aber auch weitere Formen der Abweichung hervorbringen kann. Das eingangs erwähnte Beispiel vom Glück bringenden Marmorkopf des Vergil an der Porta Nolana von Neapel hat gezeigt, wie solches Erzählen in Abweichung von den zeitlichen Verhältnissen und Kausalitäten des ordo naturalis aussehen kann. Im Beispiel des Tranks für erschöpfte Jagende im Wald von Gloucestershire führt der Diebstahl des Trinkhorns zur Unterbrechung des Ablaufs der erzählten Ereignisse. Damit wird eine Veränderung eingeführt und auf neue Weise vom Trankwunder erzählt. Das gilt umso mehr, als im Text die Möglichkeit offengehalten wird, die mirabilen Ereignisse, an denen das Trinkhorn Anteil hat, könnten an einem anderen Ort und in anderer Form wieder aufgenommen werden. Diese Neuerungen in die Erzählung der Vorgänge einzuführen, bleibt der Imagination der Rezipierenden überlassen. Schon mit der Unterbrechung des Mirabile aber wird auch in diesem Beispiel letztlich auf die Sukzession des erzählten Geschehens und auf Veränderungen, die sie betreffen, verwiesen. Um kunstfertig gestaltete Erzählweisen dieser Art, die die Kombination von Erzählelementen in paradigmatischer und vor allem – wie beide Beispiele zeigen – in syntagmatischer Hinsicht betreffen und die für Rezipierende unerwartet und zunächst rätselhaft sind, scheint es Gervasius zu gehen. Sie bringen das Wunderbare in neuer Form hervor und sind damit ästhetisch ansprechend und epistemisch produktiv.
Dass mit dem Wunderbaren die Forderung verbunden ist, mit Hilfe bestimmter sprachlicher Verfahren etwas ästhetisch Neues herzustellen, macht aus diesem in den Augen des Gervasius und anderer mittelalterlicher Autoren kein Produkt des Fingierens. Vielmehr handelt es sich beim Wunderbaren um gesichertes Wissen, das sowohl eigene epistemische Gehalte umfasst als auch Erfahrungen ermöglicht, die über das Alltägliche und Vertraute hinausgehen. Im mirabile sind nach Gervasius überprüfbare Wahrheit und überraschende Formen der Darstellung als zwei Seiten derselben Medaille miteinander verbunden.
Tilo Renz ist Privatdozent für Ältere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin; er war mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 980.
Dieser Beitrag erscheint in der Serie Wunder und Wissen.