Diesen Eindruck legen nicht nur Bestsellerlisten, sondern bereits dichtungstheoretische Schriften der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahe. Doch wozu und wie genau soll Dichtung zum Staunen anregen?

Von wunderbaren Verwandlungen handeln Ovids Metamorphosen. In den Sagen aus der griechischen und römischen Mythologie nehmen Gottheiten und Menschen die Gestalt von Tieren an, Goldregen vermag Kinder zu zeugen und Blicke können zu Stein erstarren lassen. Wunderbar geht es auch in der Erzählung von der Gründung Thebens zu. Sie dreht sich um Cadmus, der nach seiner Schwester Europa suchen und sie nach Hause zurückbringen soll – vergeblich. In seiner Not befragt Cadmus das Orakel von Delphi, das ihm aufträgt, einer Kuh zu folgen und sich an der Stelle, wo sie sich niederlässt, eine neue Stadt zu gründen. Diese neue Stadt wird Theben und Cadmus ihr König, nachdem er eine drachenartige Schlange besiegt hat, die all seine Gefährten getötet hatte. Siehe zum Drachen den Beitrag „Drachengold“  von Jutta Eming. Aus ihren Zähnen, die Cadmus auf Pallas Athenes Geheiß in die Erde pflanzt, erwächst sein ‚künftiges Volk‘:

Da begannen – o Wunder! [fide maius] – die Erdschollen sich zu bewegen,
und zuerst zeigte sich in den Furchen eine Lanzenspitze,
dann Sturmhauben, auf denen ein bunter Helmbusch nickte;
dann erscheinen Schultern, Brust und Arme, die mit Waffen beladen sind,
und es wächst eine Saat von Helden heran, die Schilde tragen. Ov. met. III, 106–110. Ovid, Metamorphosen, übers. u. hg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 2003, S. 131.

Aus den Drachenzähnen sind neue Krieger entstanden. Sie wachsen wie Pflanzen allmählich aus dem Erdboden empor. Die unmögliche Verwandlung wird auf diese Weise einer Metamorphose angenähert, wie sie sich tagtäglich in der Natur beobachten lässt. Zwischen dem beschriebenen Wunder, das mit Nachdruck als etwas den Glauben Übersteigendes ausgewiesen wird, und dem bekannt Vertrauten wird so eine Brücke geschlagen. Sie lässt das Wunderbare, das zum Staunen anregt, glaubhafter erscheinen. Davon zeigt man sich zumindest in dichtungstheoretischen Schriften der Frühen Neuzeit überzeugt. In Italien werden im 16. Jahrhundert viele solcher Regelwerke verfasst, um zu einem erfolgreichen Dichten nach dem Vorbild der Antike und volkssprachlicher Modellautoren, wie Dante, Petrarca und Boccaccio, anzuleiten. Einer der frühesten Texte zur Vermittlung dichtungstheoretischen Wissens ist ein Lehrdialog, den Bernardino Daniello 1536 unter dem Titel Della poetica publiziert und der sich eingehend mit der angeführten Cadmus-Stelle befasst. Der zentrale Dialogsprecher Trifone Gabriele Zu dem historischen Lehrmeister, der als Figur in zahlreichen Dialogen auftritt, siehe Şirin Dadaş, „Sie nannten ihn Sokrates. Trifone Gabrieles schriftliches Schweigen und dessen beredtes Echo“, in: Dynamiken der Negation. (Nicht)Wissen und negativer Transfer in vormodernen Kulturen, hg. v. ders. u. Christian Vogel, Wiesbaden 2021, S. 243–292. rühmt die Beschreibung dafür, dass sie falsche, also fiktive, Dinge („false cose“) Bernardino Daniello, „Della poetica“, in: Trattati di poetica e retorica del Cinquecento, hg. v. Bernard Weinberg, Bari 1970, Bd. 1, S. 227–328, hier S. 253. Alle Nachweise zu Primärliteratur erfolgen nach Erstbeleg im Text. als dem Wahren ähnlich erscheinen lasse („al vero somiglianti siano“, S. 254). Im deutlichen Kontrast dazu stehen mittelalterliche Reflexionen des Schreibens über das Wunderbare, siehe zur Beglaubigung des Wunderbaren bei Gervasius von Tilbury den Beitrag „Gesichertes Wissen neu erzählen – Die Kombinatorik der Wunder in Gervasius’ von Tilbury Otia imperialia (1214)“ von Tilo Renz. Wären die Krieger plötzlich aus dem Boden gesprungen, hätte das Geschilderte völlig unwahrscheinlich gewirkt („I quali se in un istante sopra la terra s’avessino veduti apparire, ciò sarebbe pur troppo fuori del verisimile stato“, ebd.). Wahrscheinlichkeit scheint unerlässlich zu sein, auch und gerade wenn Dichtung von wunderbaren Begebenheiten handelt.

Ein wunderbares Vergnügen

Doch wieso soll Dichtung überhaupt solch Staunenswertes wie die Verwandlung von Drachenzähnen in Menschen thematisieren? Daniellos Poetik empfiehlt sogar, dass Dichtung stets voll des Wunderbaren, des Angenehmen und Vergnüglichen sei („siano sempre di meraviglia, di soavità e giocondità piene“, S. 253). Der Grund dafür wird zwar nicht expliziert, die Aufzählung selbst könnte aber einen Hinweis liefern, wenn man einen Zusammenhang zwischen den genannten Eigenschaften herstellt, wie dies antike Autoren getan haben. „Angenehm nämlich ist eine Erzählung, die Anlaß zum Erstaunen gibt“ (suavis autem narratio est quae habet admirationes […]), Cic. part. 9,32, hier zit. u. übers. nach Walter Erhart, „Admiratio“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1992, Bd. 1, Sp. 109–118, hier Sp. 109. merkt Cicero in den Partitiones oratoriae an und Aristoteles stellt im 24. Kapitel seiner Poetik fest: „Das Wunderbare bereitet Vergnügen; ein Beweis dafür ist, daß jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu erweisen.“ Aristot. poet. 1460a. Aristoteles, Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 83. Staunen ist offenkundig mit positiven Empfindungen verbunden. Das Wunderbare zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, so dass selbst die kunstloseste Alltagserzählung erfreut, indem sie zum Staunen anregt. Mit Aristoteles erkennt auch Giovan Giorgio Trissino im fünften Buch seiner Poetica (um 1549 entstanden) diese allgemeine Empfänglichkeit des Menschen für das Wunderbare – er nennt es „ammirabile“ und „meraviglia“ – und leitet daraus dessen Bedeutung für die Dichtkunst ab. Giovan Giorgio Trissino, „La poetica V–VI“, in: Trattati di poetica e retorica del Cinquecento, hg. v. Bernard Weinberg, Bari 1970, Bd. 2, S. 7–90, V. Teil, S. 48. Orientieren konnten sich Daniello und Trissino bei dieser Erkenntnis ebenso an der antiken Rhetorik. Aristoteles und dann v.a. Cicero und Quintilian haben das Staunen als ein natürliches Verlangen des Publikums identifiziert; eine erfolgreiche Redekunst sei dazu im Stande, dieses Verlangen mit entsprechend kalkulierten Mitteln zu bedienen. Siehe hierzu Stefan Matuschek, Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse, Tübingen 1991, S. 24–39.

Staunen über Dichtung

Schon innerhalb der Rhetorik werden hierbei Anforderungen und Lizenzen unterschieden, je nachdem ob man es mit einer Beratungs-, Prunk- oder Gerichtsrede zu tun hat. Vgl. ebd., S. 28f. Wie sieht das aber bei der Dichtkunst aus? Wie muss sie gestaltet sein, um Staunen zu erregen? Dass es für einen Dichtungstheoretiker wie Daniello offensichtlich nicht allein damit getan ist, fiktive Gegenstände wie Drachenzähne und deren ungewöhnliche Verwandlung zu behandeln, ist bereits deutlich geworden. Gleichwohl spielen die Spielräume der Fiktion zumeist eine zentrale Rolle. Von den Dichtern wird erwartet, bei der Themenfindung stets neue und herrliche Dinge zu erdenken („che sempre sul ritrovamento nuove e magnifiche cose si vada fingendo“, Daniello, S. 253). Giovambattista Giraldi Cinzio unterstreicht in seiner epentheoretischen Schrift Discorso intorno al comporre de i romanzi (1554), dass Erdachtes den Rezipierenden oftmals unbekannt sei und diese Neuheit des Sujets („novità del soggetto“) besonders viel Anmut und Vergnügen verspreche („porta con essolei molta vaghezza et molto diletto“). Giovambattista Giraldi Cinzio, Discorso dei Romanzi, hg. v. Laura Benedetti [u.a.], Bologna 1999, S. 43. Und in Giovanni Pontanos Dialog Actius (ca. 1495/99), der die admiratio als zentrales Wirkungsziel ausweist, Siehe hierzu Andrea Elmer, Sola admiratio quaeritur. Das Staunen in der Dichtung der italienischen Renaissance, Paderborn 2021, S. 51–66. ist Dichtung keine Dichtung, „wenn sie nicht auch von anderswo vieles herbeigetragen hat, das teils entweder wahr oder wahrscheinlich, bald ganz erdichtet und dem Wahren auf keine Weise ähnlich ist, damit das Gesagte um so bewundernswerter erscheint“ (nisi multa etiam aliunde comportaverit, nunc ex parte aut vera aut probabilia, nunc omnino ficta neque veri ullo modo similia, quo admirabiliora quae a se dicuntur appareant). Giovanni Pontano, Dialoge, hg. u. übers. v. Hermann Kiefer, München 1984, S. 422f. Zur Wortbedeutung von „admiratio“, die seit der Antike gleichermaßen ‚Bewunderung‘ und ‚Erstaunen‘ miteinschließt, siehe Erhart, „Admiratio“, Sp. 111f. Brigitte Kappl stellt treffend fest: „Die Notwendigkeit, auch im Hinblick auf den Inhalt das Herausragende, Ungewöhnliche, Unerhörte zu finden, fordert die kreative Phantasie des Dichters.“ Brigitte Kappl, Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Berlin/New York 2006, S. 52.

Wahrscheinlich wunderbar

Den Spielräumen der Imagination werden bei Pontano in dieser Hinsicht somit keine Grenzen gesetzt. In Daniellos Poetik sieht das anders aus. Die Regeln, die für die Gestaltung staunenswerter Fiktionen aufgestellt werden, ergeben sich hierbei aus der Zusammenführung unterschiedlicher dichtungstheoretischer Ansätze. Daniellos Dialogsprecher übernimmt eins zu eins die Parallelen, die im Actius zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung ausgemacht werden; Vgl. hierzu Pontano, S. 420–423 und Daniello, S. 253f. er rekurriert aber ebenso auf Aristoteles’ Poetik und Horaz’ Ars poetica. Die Geschichtsschreibung, da sind sich alle einig, dient der Darstellung der Wahrheit. Dass die Dichtkunst demgegenüber der Wahrscheinlichkeit verpflichtet sein solle, ist hingegen nur für Aristoteles, Horaz und mit ihnen für Daniello entscheidend. Aristoteles zufolge besteht die Besonderheit der Dichtung darin, zu zeigen, „was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ (1451a, S. 29). Und auch Daniello betont, dass in diesem Punkt und nicht in der Versverwendung der zentrale Unterschied der beiden Künste liege. Hierbei sei stets Wahres mit Falschem so zu mischen, dass alle Teile einer Erzählung harmonierten („mescolar sempre con le vere le false cose, in guisa che né ’l primo dal mezzo, né il mezzo dal fine, si discordi“, Daniello, S. 253). Horaz, der sich ebenfalls für eine Nähe des Erdachten zum Wahren (proxima veris) ausspricht, Horaz, Ars Poetica – Die Dichtkunst, hg. u. übers. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 2008, S. 24, V. 338. hat Homers Darstellung von miracula in entsprechender Weise verteidigt: „und so versteht er zu lügen, so Falsches mit Wahrem zu mischen, daß nicht dem Anfang die Mitte, der Mitte der Schluß widerstreitet“ (V. 151–152, S. 13). In allen drei Fällen geht es offenkundig um eine Wahrscheinlichkeit, die sich nicht an Dichotomien wie möglich/unmöglich oder wirklich/nicht wirklich
ausrichtet, Zu diesen Differenzierungen siehe Jürgen Landwehr, „Fiktion oder Nichtfiktion. Zum zweifelhaften Ort der Literatur zwischen Lüge, Schein und Wahrheit“, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hg. v. Helmut Brackert u. Jörn Stückrath, Reinbek bei Hamburg 62000, S. 491–504. sondern die an „interne[n] Organisationsformen“ von Dichtung bemessen wird, Andreas Kablitz, „Dichtung und Wahrheit – zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento“, in: Ritterepik der Renaissance, hg. v. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 1989, S. 77–122, hier S. 80. d.h. die auf konsequenter Charakterzeichnung und Handlungslogik gründet. Siehe für Aristoteles etwa Arbogast Schmitt, „Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451 a36–b11)“, in: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Jörg Schönert u. Ulrike Zeuch, Berlin/New York 2006, S. 65–95, hier S. 72f. Dies trifft auch auf das erwähnte Beispiel der wunderbaren Verwandlung der Drachenzähne zu, das in Daniellos Poetik kommentiert wird. Hinzu kommt nun aber, dass diese Metamorphose sich nicht nur in ihrer erzähllogischen Darstellung wahrscheinlich ausnimmt, sondern zudem in ihrer naturähnlichen Gestaltung ‚wahr scheint‘. Das Beispiel verdeutlicht, dass sich diese beiden, von Kablitz überzeugend unterschiedenen, Verständnisweisen der Wahrscheinlichkeit nicht zwangsläufig entgegenstehen müssen (so bei Kablitz, S. 82f.). Sie vermag derart in doppelter Weise zum Staunen anzuregen.

Staunend fühlen

Wieso die Wahrscheinlichkeit des Wunderbaren als wichtig zu erachten ist, wird Giraldi genauer ausführen: Nur wenn die einzelnen Teile einer Erzählung in ihrem Verhältnis schlüssig und stimmig sind, wird dem Dargestellten Glauben geschenkt und nur so kann es ‚die Seele der Lesenden bewegen‘ („se si levasse la credenza a quel ch’egli scrive, non vi porrebbe l’animo chi legge“, S. 90). Ohne Wahrscheinlichkeit keine Glaubwürdigkeit und ohne Glaubwürdigkeit keine Gefühlsregung bei den Rezipierenden. Sie ist für Giraldi die Voraussetzung dafür, dass Dichtung ihre zentralen Aufgaben erfüllt, die Horaz’ Ars poetica entnommen werden: zu erfreuen und zu nützen (vgl. ebd.).

Die Erregung von Affekten, genauer noch von zwei bestimmten Affekten, nämlich Mitleid und Furcht (eleos und phobos), hat bereits Aristoteles in seiner Tragödienbestimmung zu deren Wirkungsziel erklärt. Und auch er bringt dieses Ziel mit dem Wunderbaren und dessen stimmiger Darstellung in einen Zusammenhang: „Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen. So haben sie nämlich mehr den Charakter des Wunderbaren, als wenn sie in wechselseitiger Unabhängigkeit und durch Zufall vonstatten gehen“ (1452a, S. 33). Siehe hierzu auch Matthias Grandl, „Geister. Wissen. Von sprechenden Toten und stechenden Texten“. Staunend mitzufühlen bedeutet intensiver mitzufühlen, das unterstreichen ebenso frühneuzeitliche Aristoteles-Kommentatoren wie Francesco Robortello und Lodovico Castelvetro. Vgl. Lodovico Castelvetro, Poetica d’Aristotele vulgarizzata e sposta, hg. v. Werther Romani, Bd. 1, Rom/Bari 1978, S. 295f.; zu Robortello siehe Erhart, „Admiratio“, Sp. 112. Und in Antonio Sebastiano Minturnos L’arte poetica (1563) wird sogar jede Art der Affizierung durch Dichtung – also nicht nur die beiden bei Aristoteles genannten Wirkungsziele – ans Staunen geknüpft. Antonio Sebastiano Minturno, L’arte poetica, Venedig 1563, S. 40. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit und mithin die Glaubwürdigkeit des Dargestellten die conditio sine qua non.

Von Wundern erzählen

Aber wird nur das geglaubt, was stimmig präsentiert wird, was sich konsequent aus der Anlage der Figuren und der Handlung erschließt? Und von was kann, darf, soll Dichtung eigentlich handeln, um Staunen zu erregen? Auch mit diesen Fragen haben sich Daniello und dann vor allem Trissino und Giraldi befasst. Daniello und Giraldi fordern in ihren Schriften, wie gesehen, dass das Dargestellte zugleich neu und wahrscheinlich sein solle, für Trissino spielt die Neuartigkeit des Sujets keine nennenswerte Rolle. Siehe demgegenüber zur zentralen Bedeutung der Neuheit innerhalb einer mittelalterlichen „Poetik des ‚Neu-Machens‘ von Wunderbarem“ Falk Quenstedt/Tilo Renz, „Kritik und Konstruktion des Wunderbaren in den Otia imperialia (1214) des Gervasius von Tilbury“, in: Das Wunderbare. Dimensionen eines Phänomens in Kunst und Kultur, hg. v. Stefanie Kreuzer u. Uwe Durst, Paderborn 2018, S. 251–262. In seiner Poetik werden dafür recht konkrete staunenswerte Inhalte erwähnt und damit verbunden ganz andere Arten von Glaubwürdigkeit zur Sprache gebracht. So sei es zulässig, Zaubereien („incanti“) und Dämonen („demonii“) zu thematisieren, schließlich glaubten Menschen an solche Dinge („che credeno gli uomini“), wenngleich sie unmöglich („cose impossibili“) seien (VI. Teil, S. 53f.). Trissino rechtfertigt derartige wunderbare Elemente folglich nicht mehr mit dem Argument ihrer textintern möglichen Motiviertheit, sondern mit ihrer realweltlichen Zurückführung auf den Volksglauben, den Dichtung in seinen Augen bedienen darf. Mit dieser Einstellung steht er Bestimmungen des Tridentinischen Konzils (1545–1563) diametral entgegen. Der von der katholischen Kirche neu festgelegte Index verbotener Bücher richtete sich u.a. dezidiert gegen die Darstellung nichtchristlicher Übernatürlichkeiten und aller Formen von Magie. Karlheinz Barck erläutert:

Die Erfindung neuer Wunder und die admiratio überhaupt
galten als christliches Ärgernis, um so mehr als die
mit dem Buchdruck ermöglichte Verbreitung literarischer Erzeugnisse
profanen Inhalts wie z.B. Ritterromane in einer Allgemeinheit von Lesern
die kirchliche Rechtgläubigkeit in Frage stellen konnten. Karlheinz Barck, „Wunderbar“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. dems. [u.a.], Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2005, S. 730–773, hier S. 737.

Trissinos Poetik liest sich demgegenüber geradezu als subversives Plädoyer für die ‚Kunstfreiheit‘. So geht er ein zweites Mal, diesmal etwas genauer, auf den darstellbaren Bereich des Unmöglichen ein, dem er – und das ist beachtlich – christliche und nichtchristliche Vorstellungen ohne jede Differenzierung zurechnet, also: ‚das, was die Menschen gängigerweise glauben, wie das, was Dante von der Hölle, vom Fegefeuer und vom Paradies gesagt hat, und das, was man sich über Engel, Dämonen, über die Nekromantie, über Zaubereien und ähnliches sagt‘ („quello che le genti comunemente credeno, come è quello che disse Dante dell’Inferno, del Purgatorio e del Paradiso; e quello che si dice degli angeli, dei demonii, della necromanzia, delli incanti, e simili“, VI. Teil, S. 54). Zugespitzt formuliert: Ob christliche oder heidnische Epen – Hauptsache, das Publikum staunt.

Der Nutzen des Wunderbaren

Neben Trissinos ebenso gewagter wie singulärer Verteidigung der Darstellung von Unmöglichem über den Volksglauben – im doppelten Verständnis von Aberglauben und Volksfrömmigkeit – werden noch weitere Begründungen angeführt. Durchaus verbreitet (und deutlich kirchenkonformer) ist es, Dichtung eine moralethische Funktion zuzuschreiben. Zum Bereich des Unmöglichen zählt Trissino etwa auch Darstellungen von Helden wie Achilles, Aeneas, Tristan und Orlando. Allein in ihrer Überhöhung zu außergewöhnlichen Ausnahmeerscheinungen könnten sie als ‚exzellentes Exempel‘ dienen, das die Rezipierenden zur Nachahmung anregen könne (vgl. VI. Teil, S. 54). Dies legitimiere hinlänglich derartige Gestalten in entsprechenden Texten.

Etwas allgemeiner fasst es Giraldi in seiner geschickten Zusammenführung von Aristoteles und Horaz entnommenen Argumenten. Wie wir bereits sehen konnten, stellt er einen Konnex her zwischen dem Wunderbaren, seiner Wahrscheinlichkeit, der Affizierung und Belehrung durch Dichtung. Letzteres wird zur apriorischen Voraussetzung für Ersteres umgekehrt: Wenn Dichtung belehren soll, was aber nur gelingt, wenn sie affiziert, diese Affizierung aber wiederum vom wunderbaren Gegenstand und seiner wahrscheinlichen Darstellung abhängt, dann versprechen wunderbare Fiktionen einen ‚wunderbaren Nutzen‘ („maraviglioso giovamento“, Giraldi, S. 47).

Göttliche Wunder

Noch kirchenkonformer wird es mit Minturno, der als Bischof selbst am Konzil von Trient teilgenommen hatte. In L’arte poetica bezieht er sich ebenfalls auf Aristoteles, genauer gesagt auf das 9. Kapitel seiner Poetik, um einen Zusammenhang zwischen dem Wunderbaren, Wahrscheinlichkeit und Affizierung stark zu machen. Aristoteles hatte als Beispiel für etwas, das wunderbar wirkt, den Fall der Mitys-Statue als eine zufällige, zugleich aber absichtsvoll und damit folgerichtig erscheinende Begebenheit angeführt: Just als der Mörder von Mitys vor dessen Statue steht, fällt diese um und erschlägt ihren Betrachter (1452a, S. 33). Minturno greift das Beispiel auf und hier ist nun viel von einem ‚göttlichen Wink‘ („divino consiglio“), einer ‚göttlichen Fügung‘ („divina dispositione“) und dem ‚Willen Gottes‘ („volonta d’Iddio“) zu lesen (Minturno, S. 40). Folgerichtig mag solch eine Darstellung zwar im handlungsbezogenen Sinne auch sein. Relevanter ist hier aber offenkundig eine andere Art von Wahrscheinlichkeit, die sich aus der religiösen Vorstellung eines strafenden Gottes ergibt.

Bereits Trissino integriert diesen Gedanken, wenngleich deutlich weniger insistierend, in seine Auseinandersetzung mit dem Mitys-Beispiel (vgl. V. Teil, S. 20f.). Mit Blick auf beide Autoren fallen dabei drei Dinge auf: 1. Hier wird ein Verständnis von Wahrscheinlichkeit erkennbar, das auf dem außertextuellen Glauben an ein göttliches Wirken gründet. 2. Auf diese Weise lässt sich ein Bogen zu jenen Wundern schlagen, gegen deren Darstellung die katholische Kirche nichts auszusetzen hatte. 3. Im Unterschied zu Minturno will Trissino Dichtung aber offenkundig nicht allein auf solch eine erbauliche (und im Übrigen auch nicht auf eine moralethische) Ausrichtung beschränken, sondern er führt unterschiedliche, teils einander entgegenstehende Argumente an, um Darstellungen zu verteidigen, die „admirazione“ auslösen.

Was darf Dichtung?

Es sei abschließend ein letztes Argument von Trissino und Giraldi genannt, das die beiden Dichtungstheoretiker in freiem Bezug auf Aristoteles entfalten. Im 24. Kapitel seiner Poetik empfiehlt Aristoteles für die Ependichtung: „Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist“ (S. 83f.). Anhand unseres Eingangsbeispiels lässt sich leicht verdeutlichen, was damit gemeint sein dürfte: Es mag zwar unmöglich sein, dass sich ausgesäte Drachenzähne in Menschen verwandeln. Wenn Cadmus aber soeben einen Drachen erlegt und von Pallas Athene entsprechende Anweisungen erhalten hat, erscheint dies – in der Logik der Geschichte – wahrscheinlich. Dagegen wäre es zwar möglich, dass Cadmus statt der Drachenzähne Aprikosenkerne pflanzt, um in etwa vier bis fünf Jahren Aprikosen ernten zu können. Allerdings käme solch ein ‚realistisches‘ (und wenig wunderbares) Handlungsmoment wenig motiviert daher und würde ungläubige Fragen herausfordern: Woher kommt dieser Aprikosenkern? Hat Cadmus Aprikose kauend mit dem Drachen gekämpft? Und was macht er jetzt so mutterseelenallein in Theben?

Auch Trissino zufolge sollen eher ‚unmögliche und glaubhafte als unglaubhafte und mögliche Dinge‘ („cose impossibili e credibili che incredibili e possibili“) dargestellt werden; anders als Aristoteles begründet er diese Forderung aber, indem er sie als bewährte Dichtungstradition ausweist: Die anderen Dichter („gli altri poeti“, VI. Teil, S. 54) hätten das ebenso gemacht. Damit erfährt Aristoteles’ Argument im Transfer eine Umdeutung. Interessanterweise führt Trissino hierbei keine konkreten antiken oder volkssprachlichen Modellautoren an. Mag sein Rekurs auf Vorgänger im Einklang mit dem frühneuzeitlichen Gebot der imitatio stehen, mit der Unbestimmtheit der implizierten Nachahmungsforderung eröffnen sich nahezu uneingeschränkte Möglichkeiten für die Fiktion.

Die zugrundeliegende Frage lautet: Was darf Dichtung? Auch Giraldi zufolge ist sie berechtigt, Dinge darzustellen, die weder geschehen sind noch geschehen können und dennoch als wahrscheinlich gelten („le quali mai non avennero né possono avenire, et nondimeno sono passate per verisimili“, S. 90). Ähnlich wie Trissino macht er aus Aristoteles’ dichtungstheoretischem ein dichtungshistorisches Argument, im Unterschied zu Trissino wird dabei aber die Autorität („auttorità“) konkreter Autoren geltend gemacht: Genau so seien Dichter wie Boiardo, Ariost, Homer, Vergil und Ovid vorgegangen. Dass den drei antiken Modellautoren zwei volkssprachliche Dichter des 15. und 16. Jahrhunderts vorangestellt werden, gibt hierbei deutlich den Überbietungsanspruch (superatio) zu erkennen, der sich an die frühneuzeitliche Nachahmungsästhetik knüpft.

Aber auch Giraldis Vorschriften erscheinen nicht sonderlich restriktiv, wenn er die Konventionalität eines entsprechenden Vorgehens unterstreicht. Dreimal fällt das Wort „uso“ in diesem Zusammenhang: Giraldi zufolge ist es Usus, ‚fiktive neue Dinge‘ in die Dichtung einzuführen, die durch ihren ‚Gebrauch‘ dann als wahrscheinlich akzeptiert werden. Es bedürfe nur ‚der Zustimmung der Welt‘ („consentimento del mondo“, S. 90). Die nachahmungsbasierte wie autoritätsverpflichtete wird damit in eine publikumsorientierte, rezeptionsästhetische Verteidigungsstrategie überführt: Was Dichtung darstellen darf, entscheidet zum einen der Kanon der Alten, zum anderen der Erfolg der Neuen. Ausgesprochen weit werden damit nicht nur bei Trissino, sondern auch bei Giraldi ihre Lizenzen abgesteckt. Mag der Rechtfertigungsdruck um 1550 zur Verteidigung einer Dichtung, die zum Staunen einlädt, mit Blick auf die vielen Gründe, die Trissino und Giraldi im Unterschied zu Pontano und Daniello anführen, deutlich gestiegen sein. In allen Fällen zeigt sich, dass ästhetische Kategorien wie „admiratio“ (Pontano), „meraviglia“ (Daniello, Trissino), „ammirabile“ (Trissino) und „maraviglioso“ (Giraldi) es ermöglichen, der Dichtung eigene Freiräume zuzusichern.

Şirin Dadaş ist Romanistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 980.

Dieser Beitrag erscheint in der Serie Wunder und Wissen.