Drachen gehören zu den bekanntesten Elementen des Wunderbaren in der Literatur des Mittelalters. Sie sind Gegner herausragender Helden und bewachen Gold und Edelsteine – möglicherweise in Verbindung mit historischem Wissen über Bodenschätze
Als Siegfried, der unvergleichlich starke Held aus Xanten, mit einer Gefolgschaft in glänzender Rüstung und kostbarer Bewaffnung am Hof der Burgunden in Worms eintrifft, um mit seiner Werbung um die schöne Kriemhild zu beginnen, weiß von den anwesenden Adligen zunächst niemand, mit wem man es hier zu tun hat. Der burgundische König lässt deshalb einen besonders kundigen Vasallen herbeirufen, Hagen von Tronje. Hagen wirft von einem Fenster im Inneren des Palastes aus einen Blick auf die immer noch im Hof versammelten Fremden. Da entfaltet das Charisma der Hauptperson offensichtlich auf ihn seine Wirkung. Denn wie Hagen erklärt, ist er sich beinahe sicher, dass es sich nur um Siegfried handeln könne, obwohl er ihn nie selbst gesehen habe. Und er kennt Siegfrieds Geschichte: Dieser hat, wie Hagen erzählt, starkiu wunder (außergewöhnliche Taten) Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. v. Ursula Schulze, ins Neuhochdeutsche übers. u. komm. v. Siegfried Grosse, Stuttgart 2017, 85,4. Weitere Strophen- und Versangaben erscheinen direkt hinter dem Zitat im laufenden Text. Die Übersetzung folgt mit leichten Abweichungen der zitierten Ausgabe. vollbracht, als er die tapferen Nibelungen besiegte und ihren Schatz in seine Gewalt nahm. Zu diesem Schatz gehören Wagenladungen voller Gold, Edelsteine, Schwerter und eine Tarnhaut. Ganz am Ende dieser Erzählung setzt Hagen noch hinzu:
Noch weiz ich an im mêre, daz mir ist bekannt:
Einen lintrachen, den sluoc des heldes hant.
Er badet sich in dem bluote. sîn hût wart hurnîn.
des snîdet in kein wâfen. Daz ist dicke worden schîn.
(NL, 98)
(Ich weiß noch mehr über ihn, das ist mir bekannt: Der Held hat mit seiner eigenen Hand einen Drachen erschlagen. Er badete in dessen Blut, davon bekam er eine Hornhaut. Durch diese dringt keine Waffe, wie man danach häufig gesehen hat).
Das ist es. So viel oder so wenig wird über den bekanntesten Drachenkampf der deutschsprachigen Literatur, der Bezüge zum touristisch erschlossenen und vielbesungenen Drachenfels im Siebengebirge Teile des Beitrags wurden im Rahmen der Reihe ‚Heimspiel Wissenschaft‘ der Hochschulrektorenkonferenz mit Unterstützung des SFB 980 am 27.04.2024 in der Oberen Burg in Rheinbreitbach als Vortrag gehalten und konnten dabei den genius loci in optimaler Weise nutzen. über eine Vielzahl von Nachdichtungen, bildlichen Darstellungen und verschiedenen
Verfilmungen Insbesondere Fritz Langs Die Nibelungen, die das Modell für einen ‚lebensgroßen‘ Stein-Nachbau des Drachens im Garten der Richard Wagner gewidmeten Nibelungenhalle auf dem Drachenfels bildete.inspirierte, in seiner wichtigsten Quelle erzählt. Im Nibelungenlied scheint die Drachentötung einzig und allein aus dem Grund von Interesse, weil er Siegfrieds Unverwundbarkeit und spätere Ermordung motiviert: Wie Kriemhild verraten wird, gibt es eine Stelle in seinem Rücken, auf die im Moment des Bades ein Lindenblatt fiel und das ihn deshalb verletzlich macht.
Die knappe Strophe ist weder ästhetisch noch epistemisch anspruchslos. Vielmehr dient die Analepse als Kunstgriff, mit dem „nicht-auserzähltes Sagengeschehen“ Jan-Dirk Müller, ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen volksprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017, S. 151.in die Dichtung eingeholt wird.
Jan-Dirk Müller erachtet es als charakteristisch für ‚episches Erzählen‘, dass es dabei zugleich in einer Distanz belassen werde: „Das Sagenwissen begrenzt das Wissen des Erzählers. Wo es schweigt, hat auch der Erzähler nichts mehr zu sagen.“ Ebd., S. 152.Bezogen auf den vorliegenden Fall wird dies prima vista daran manifest, dass die erzählerische Nähe vom Erwerb des Nibelungenschatzes zur Erwähnung des Drachenkampfes in Hagens Bericht möglicherweise auch eine ursächliche Nähe meint – aber eindeutig ist das nicht. Dabei ist die Nähe von Drachen und Schatz für die Überlieferungstradition typisch.
Um das Jahr 1400 ist das Lied vom Hürnen Seyfried vermutlich weit bekannt – auch wenn alle Überlieferungszeugen später zu datieren sind –, eine Nachdichtung zu einzelnen Passagen der Siegfried-Geschichte, in welcher der Drachenkampf Siegfrieds verselang als aufwändige Befreiung Kriemhilds geschildert wird, die vom Drachen entführt worden war und die Siegfried diesmal auch gleich noch den Schatz einbringt, der sich im nahen Berg befindet. Dies ist zwar mit der im Nibelungenlied berichteten Ereignisfolge nur bedingt in Übereinstimmung zu bringen, reflektiert aber den unübersichtlichen Kontext von germanischen Sagenstoffen, in dem es entstanden ist. Vermutungen, dass sie auf älteren mündlichen Erzählungen beruhen, wurden immer wieder angestellt, lassen sich aber nicht verifizieren. Insbesondere die altnordischen Lieder der älteren Edda, welche nach dem Nibelungenlied aufgeschrieben worden sind, verbinden eine Siegfried-Figur mit einem Kampf gegen einen Drachen namens Fafnir sowie mit dem Erwerb des Schatzes und dem Bad im Drachenblut. Eingehend zum Drachenkampf in den verschiedenen literarischen Gattungen des Mittelalters vgl. Andreas Hammer, „Der heilige Drachentöter. Transformationen eines Strukturmusters“, in: Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters, hg. v. dems. u. Stephanie Seidl, Heidelberg 2012, S. 143–179, hier S. 147.Noch Richard Wagners Oper Rheingold reflektiert in der Figur des Fafner den nordischen Zwergensohn Fafnir, der in der isländischen Völsunga Saga einen Goldschatz stiehlt und bewacht und sich dabei allmählich in einen furchtbar aussehenden Drachen verwandelt.
In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die Textpassage aus dem Nibelungenlied über die Sagentradition hinaus weitere Formen des Wissens aktualisiert, insbesondere literarisches, naturkundliches und lebensweltliches, das eine Nähe zwischen Schatzraub und Drachenkampf plausibel macht. Darauf verweist nicht zuletzt ihre Einbettung in eine Geschichte über wunder. Außerdem wird den Gründen für diese Anbindung nachgegangen. Was haben Drachen also mit (Boden)Schätzen zu tun?
Die Drachen-Überlieferung ist außerordentlich komplex und variabel.
Wie auch an der zitierten Bezeichnung wurm aus dem Nibelungenlied erkennbar, changiert die Gestalt des Drachens abhängig von Überlieferung (griech., lat., volkssprachig, allgemeine Mythologie) und Textsorte (Naturgeschichte, Bibel und klerikale Schriften, literarische Texte) oder Epoche zwischen Schlange, Riesenechse und Greif. Die Attribute des Feuerspeiens und der Drachenflügel und – ineins damit – eine Nähe zum Teufel bzw. zum Bösen werden den Drachen erst seit dem Mittelalter zugeordnet. Umfassend zur Anbindung des Drachen an die mittelalterliche Dämonologie vgl. Bernd Roling, Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, Leiden/Boston 2010, S. 551-651. Im Mittelalter sind Drachen deshalb auch die absoluten Gegner des Helden: Ein Drachenkampf stellt „in besonderer Weise die Exemplarizität des Helden unter Beweis, er ist die heroische Tat schlechthin.“ Hammer, „Der heilige Drachentöter“, S. 143.Wenn christliche Protagonisten, wie etwa der Heilige Silvester, Drachen besiegen, ist der Sieg immer „in einer göttlichen Provenienz aufgehoben, die Relationen und Handlungsverlauf begründet und lenkt“. Ebd., S. 155. Die christliche und die weltlich-mythologische Semantik des Drachens müssen sich zugleich nicht ausschließen, vielmehr besteht eine Reihe von Überlagerungen und hybriden Figuren, wie etwa die des Heiligen Georg, der im Spätmittelalter einerseits heiliger Märtyrer und andererseits ritterlicher Drachentöter sein kann. Vgl. die Ausführungen zum Heiligen Georg in der Handschrift mgq. 478 bei Hammer, „Der heilige Drachentöter“, S. 178.
Bei Isidor von Sevilla wirkt der Drache wie ein Greif, in anderen Quellen hat er einen schuppigen Schlangenleib und wird auch so genannt (wurm, serpant). Die älteste und sehr ausführliche Beschreibung eines literarischen Drachenkampfs stammt aus dem altenglischen Beowulf. Die erste ausführliche Beschreibung eines Drachenkampfes in der deutschsprachigen Literatur findet sich hingegen in einem höfischen Roman, der einige Jahrzehnte nach dem Nibelungenlied verfasst worden ist, nämlich Wirnts von Gravenberg Wigalois. Von seinem detailliert beschriebenen Aussehen vermittelt der folgende Auszug einen Eindruck:
sîn houbt was âne mâze grôz sîn bûch was grüene alsam ein gras,
swarz, rûch; sîn snabel blôz, diu ougen rôt, sîn sîte gel;
eins klâfters lanc, wol ellen breit, der wurm der was sinwel
vor gespitzet, unde sneit als ein kerze hin zetal;
als ein niuwesliffen sper; sîn scharfer grât der was val;
in sînem giele hêt er zwei ôren hêt er als ein mûl;
lange zene als swîn; sîn atem stanc, wand er war vûl,
breite schuopen hürnîn wirs dan ein âs daz lange zît
wâren an im über al; an der heizen sunnen lît;
von dem houbet hin ze tal ouch hêt er viel unsüeze
stuont ûf im ein scharfer grât, als ein grîfe vüeze,
als der kokodrille hât, die wâren rûch als ein ber;
dâ er die kiele kliubet mit; zwei schœniu vetiche hêt er
der wurm hêt nach wurmes sit gelîch eins pfâwen gevider.
einen zagel langen […]
(Sein Kopf war über die Maßen groß, schwarz behaart; sein freiliegender Schnabel war einen Klafter lang und eine Elle breit; spitz zulaufend, schnitt er wie eine frisch geschliffene Lanze. In seinem Maul hatte er lange Zähne wie ein Eber, überall bedeckten ihn breite Hornschuppen. Vom Kopf über den gesamten Rücken zog sich ein scharfer Grat wie bei einem Krokodil, mit dem er die Schiffe von unten schneidet. Der Drache hatte, drachentypisch, einen langen Schwanz […] Sein Bauch war grün wie Gras, seine Augen rot, seine Seiten gelb, der Drache war rund zulaufend wie eine Kerze, sein scharfer Grat war gelb, zwei Ohren hatte er wie ein Maultier. Sein Atem war übelriechend, denn er war faulig, schlimmer als Aas, das lange in der heißen Sonne liegt, auch hatte er unschöne Füße wie ein Greif, sie waren behaart wie bei einem Bären. Zwei schöne Flügel hatte er, wie das Gefieder eines Pfauen.) Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J.M.N. Kapteyn. Übers., erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine u. Ulrich Seelbach, Berlin/New York 2005, V. 5028-5070. Die Übersetzung folgt mit Abweichungen der zitierten Ausgabe.
Der Dichter luxuriert in der ausführlichen Beschreibung des Drachen als eines Elements des Wunderbaren, das überwältigt (âne mâze grôz), abstoßend ist (sîn atem stanc) und todbringend (ein scharfer grât […] dâ er die kiele kliubet mit) und das zugleich mit lebensweltlichen Vergleichen in die Vorstellungswelt der Rezipienten integriert wird (sinwel als ein kerze). Er weist typische Drachen-Elemente auf (nach wurmes sit), die sich zu einem Gesamtbild von eigenwilliger Ästhetik formen. Besonders auffällig ist der Reichtum an Farben, deren Leuchtkraft ebenso ein Gegengewicht zu den monströsen Zügen bildet wie die prächtigen Pfauenfedern (schœniu vetiche). Die Erwähnung von Pfauenfedern hat offensichtlich auch dazu geführt, dass der Drache in einem besonders bekannten illustrierten Codex des Wigalois wie zu einem Pfau mit Krallen und Zähnen transformiert scheint:
Wie Claude Lecouteux nachweisen konnte, hat der Wigalois-Verfasser bei seiner Drachenbeschreibung viele verschiedene Elemente aus literarischen Texten und Naturgeschichten miteinander kombiniert, die teilweise seit der Antike überliefert sind. Claude Lecouteux, „Der Drache“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108 (1979), S. 13–31, hier S. 23–29. Einzig und allein das Krokodil, das Schiffe versenken kann, hat dort kein Vorbild. Der Verfasser will sich mit seiner Darstellung offensichtlich über den Rückgriff auf Autoritätenwissen absichern, vielleicht will er auch den Wahrheitsgehalt des Dargestellten behaupten. Lecouteux zufolge spricht gerade das Fehlen des Feuerspeiens dafür, dass der Verfasser des Wigalois sich sehr gut in den zeitgenössischen Naturgeschichten auskannte, in denen dieses Element im Allgemeinen fehlt. Ebd., S. 28–29. Bemerkenswert ist die Kreativität der Kombinatorik, mit welcher der Dichter sich einerseits treu gegenüber der wissenschaftlichen Überlieferung von Drachen verhält und andererseits das Diktum zu beherzigen scheint, dass Wunderbares sich durch Gewöhnung in seiner Wirkung abnutzt Vgl. Marcus Tullius Cicero, Vom Wesen der Götter. Lateinisch–deutsch, hg., übers. und komm. von Olof Gigon u. Laila Straume-Zimmermann, Zürich/Düsseldorf 1996, S. 170/171.und sich folglich stets erneuern muss, wenn es noch überraschen will. Nicht zuletzt ist der im Anschluss an die descriptio geschilderte Kampf mit dem Drachen, der dem Artushelden Wigalois höchsten Einsatz abfordert und in eine äußerst gefährliche Lage bringt, mit allen literarischen Mitteln mitreißend erzählt. Vgl. dazu die Analyse bei Jutta Eming, Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum ‚Bel Inconnu‘, zum ‚Wigalois‘ und zum ‚Wigoleis vom Rade‘, Trier 1999, S. 190–193. Auch von solcher Dynamik der Schilderung vermittelt die Illustration aus dem Leidener Wigalois-Codex einen Eindruck, in welchem der Drache den Ritter mit seinem Schwanz umschlungen hält.
So entsteht eine Dynamik des Transfers, der Überbietung und der Innovation.
Im Mittelalter wurde dieser poetologische Zusammenhang um 1200 von Gervasius von Tilbury bereits theoretisch reflektiert:
Und weil der Mensch seiner Natur nach immer darauf erpicht ist, Neues zu hören und zu erfahren, muß auch das Älteste zu etwas Neuem, das Selbstverständliche zu etwas Wunderbarem, und das, was für die Meisten ganz gewöhnlich ist, zu etwas Außergewöhnlichem umgedeutet werden. (Et quoniam humane mentis auiditas ad audiendas ac hauriendas nouitates semper accuitur, antiquissima commutari necesse erit in noua, naturalia in mirabilia, apud plerosque usitata in inaudita.) Gervasius von Tilbury, Kaiserliche Mußestunden. Otia imperialia. Eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von Heinz Erich Stiene, Bd. 2, Stuttgart 2009, S. 308. Das lateinische Original ist entnommen aus Gervase of Tilbury, Otia imperialia. Recreation for an Emperor, hg. u. übers. von Shelagh E. Banks u. James W. Binns, Oxford 2002, S. 558.
Diese Doppelung von ästhetischen und epistemischen Darstellungsinteressen ist hervorzuheben. Die Beschreibung bestätigt, dass der Drache, wie zuletzt insbesondere Bernd Roling betont hat, bis weit in die frühe Neuzeit hinein auch Gegenstand wissenschaftlichen Interesses und wissenschaftlicher Darstellung war. Vgl. Roling, Drachen und Sirenen. Auch eine nach modernem Verständnis fiktionale Gattung wie der Artusroman ist selbstverständlich an solcher Wissensvermittlung beteiligt.
Drachen sind mithin Element einer longue durée des ‚Wissens‘ über verschiedene Spezies von Erdbewohnern.
Als solche sind sie Teil der kosmischen Ordnung und zunächst nicht dämonisiert, Vgl. auch ebd., S. 557.folglich gehört ihre Konfrontation mit einem menschlichen Gegner nicht von Beginn an zu ihnen hinzu. Sehr früh allerdings findet sich die Auffassung, dass sie im Inneren der Erde angesiedelt sind und dort Schätze bewahren. In Hesiods Theogonie weist Gaia, die Erde, einer Serie von Monstra ihren eigenen Platz zu, darunter einer Schlange, welche im Erdinneren goldene Äpfel hütet. Vgl. Hesiod, Theogonie. Werke und Tage. Griechisch – deutsch, hg. u. übers. v. Albert von Schirnding, mit einer Einführung u. einem Register v. Ernst Günther Schmidt., 5., überarb. Aufl. Berlin 2012, S. 30/31.Schlangen und Drachen sind generisch und etymologisch in den Quellen eng verwandt, worauf die geläufigen mittelhochdeutschen Bezeichnung wurm und serpant noch verweisen. Plinius widmet der Gold- und Silbergewinnung in seiner Naturalis historia ein eigenes, ausführliches Kapitel, das mit Kritik an diesen Praktiken nicht spart. Vgl. Plinius der Ältere, Naturalis historia. Naturgeschichte. Lateinisch/Deutsch, ausgew., übers. u. hg. v. Marion Giebel, Stuttgart 2005, S. 136–145. Der Akzent liegt auf der Gewinnung der Metalle aus dem Inneren der Erde, doch er nennt auch Greifen der Skythen, welche Gold ausscharren. Ebd., S. 136/137.Isidor von Sevilla lokalisiert in seinen Etymologiae die Drachen in Äthiopien und Indien, den klassischen Ländern des Mirabilienorients, und beschreibt ihre Gewohnheit, sich aus ihren Höhlen in die Luft zu erheben, kennt sie also bereits mit Flügeln. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, übers. u. mit Anmerkungen versehen von Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, S. 463. Er berichtet in seinem Kapitel über Steine und Metalle darüber hinaus vom Edelstein draconites, der dem lebenden Drachen aus dem Kopf geschnitten werden muss, um seine Gestalt zu erlangen, wofür Magier und Forscher den Drachen mit einem speziellen Trank in Schlaf versetzen. Ebd., S. 592. Vgl. außerdem Roling, Drachen und Sirenen, S. 561, zu ähnlichen Erläuterungen bei Philostrat. Selten sind Wunder und Wissen mit Blick auf den Umgang mit Drachen so enggeführt worden.
Die nachgeschobene Geschichte über Siegfrieds Drachenkampf und den Erwerb des Schatzes der Nibelungen wird schon für die mittelalterlichen Zeitgenossen in einer Vorzeit situiert, die außerhalb ihrer Erfahrungswirklichkeit lag; auf moderne Leser kann sie leicht wie eine ‚märchenhafte Zauberwelt‘ wirken. So Schulze, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997, S. 137. Gerade Siegfrieds Drachenkampf und Horterwerb sind leicht mit einer Sphäre von ‚Zauber und Märchen‘ zu verwechseln. Dort gehörten sie aber nicht hin, zumindest nicht vorrangig. Abgesehen davon, dass heldenepisch geprägte Dichtungen wie das Nibelungenlied immer historische Ereignisse einer weiter zurückliegenden Vergangenheit bearbeiten, ist die Beschreibung des Schatzes im Nibelungenlied möglicherweise vom historischen Wissen um reale Funde von Schätzen aus der Völkerwanderungszeit inspiriert, die typischerweise ebenfalls Gold aufweisen, im Unterschied zu dem um 1200 als Münzgeld schon zirkulierenden Silber. Zu diesem Zusammenhang, insbesondere der Gegenüberstellung von ‚Horten‘ und ‚Zirkulieren‘ als historischen Kulturpraktiken, vgl. Sophie Marshall, Jenseits der Gabe. Schatz und Geld in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2023, zum Schatz des Nibelungenliedes S. 134–173, hier S. 156. Darüber hinaus ist der Drache im Mittelalter ein mirabile und als solcher Gegenstand des Wissens. Bestimmte ihm zugeschriebene Eigenschaften bleiben trotz aller ‚Beweglichkeit‘ seiner Gestalt und seines Aussehens, seiner Moralisierung und Akademisierung, immer identifizierbar. Dazu gehört, dass er Bodenschätze hütet, die ihm im Zweifelsfalle, wie Isidor es schildert, mit Gewalt abgetrotzt werden müssen. Aus diesem Grunde ist es naheliegend, Drachenkampf und Schatzraub im Nibelungenlied eben so erzähltechnisch miteinander zu verbinden, wie der Hürne Seyfried es später auserzählt. Selbst populäres Wissen scheint solche Anbindung in gewisser Weise präsent zu halten: So ist der Drachenkampf mit dem Drachenfels auf einem Berg im Rheinland angesiedelt worden, der zu den übrigen Schauplätzen der Nibelungen-Dichtung durchaus passt. Aber es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Berg zugleich seit der Antike als Steinbruch für den Abbau von Quarztrachyt genutzt wurde. Vgl. Drachenfels. Dass der Name des Steins eigene Etymologien erzeugt hat, die wissenschaftlich allerdings nicht haltbar sind, scheint nachvollziehbar.
Eine solche Kontextualisierung mit historischen Konzepten natürlicher Ordnung und der Reflexion über den Erwerb von Bodenschätzen kommt in der Deutung des ‚schatzhütenden‘ Drachens in der Literaturwissenschaft insgesamt noch zu kurz.
Dies könnte daran liegen, dass der Prototyp des schatzhütenden Drachens, nämlich der Drache aus dem Beowulf, den Schatz einer untergegangenen Gesellschaft in den Berg mit sich nimmt, also mehr Kultur- als Naturschätze bewacht. Vgl. eingehender Marshall, Jenseits der Gabe, S. 126–134.Heute, in Zeiten des Ecocriticism, wäre ein Rekurs auf Formen früher wissenschaftlicher Darstellung zu Ressourcen, welche die Natur mit Zähnen und (Drachen)Klauen verteidigt, besonders angemessen.
Jutta Eming ist Professorin für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin und Projektleiterin am SFB 980.
Dieser Beitrag erscheint in der Serie Wunder und Wissen.