Am 26. Dezember ist Stephanus-Tag. Als erster Märtyrer steht er in enger Beziehung zu Jesus Christus. Wie Stephanus über Jahrhunderte als Identifikationsfigur präsent gehalten wurde, deuten zwei Theologinnen und eine Kunsthistorikerin.
Der heilige Stephanus steht in der christlichen Tradition als Vorbild und Zeuge für Gottes Präsenz in Leiden und Tod. So verwundert es nicht, dass der Gedenktag an Stephanus historisch schon früh eng mit dem Fest der Geburt Jesu Christi und dem Eintritt der leiblichen Präsenz Gottes in der Welt verbunden wurde. Stephanus’ Zeugenschaft gründet in einer Vision Christi und in seinem Martyrium durch die Steinigung, aufgrund der er in die Nachfolge Christi tritt und selbst zum Vorbild für Christen wird. Das Wissen um diese Zeugenschaft wurde durch Jahrhunderte hindurch in intermedialen und interkulturellen Transfers verbreitet. Häufig wurden dabei Darstellungsmodi eingesetzt, die auf eine besondere Präsenzmachung und Vergegenwärtigung abzielen.
Ein Bild in Berlin – Historizität und Vergegenwärtigung
Flaniert man durch die Berliner Gemäldegalerie, steht man irgendwann vor einer Tafel mit der Weihe des Hl. Stephanus zum Diakon. Geschaffen wurde sie als erste eines insgesamt fünf Tafeln umfassenden Zyklus mit Episoden aus dem Leben des Heiligen, die Vittore Carpaccio 1511–1520 für die Scuola di Santo Stefano, eine Laienbruderschaft in Venedig, fertigte. Siehe zum Gemälde Patricia Fortini Brown, Venetian Narrative Painting in the Age of Carpaccio, New Haven/London 1988, bes. 72, 296–298; Lars Zieke, Rom als ‚Neues Jerusalem‘ – Venedig als ‚Neues Rom‘ in Carpaccios Stephanus-Zyklus, in: Transformationen Roms in der Vormoderne, hg. v. Christoph Mauntel und Volker Leppin, Basel 2019, 191–209.
Von der dargestellten Segnung Stephanus’ berichtet als erstes Zeugnis die neutestamentliche Apostelgeschichte (Apg, ca. 90 n. Chr.), die von der Entstehung der Urgemeinde in Jerusalem direkt nach Jesu Tod erzählt. Zur Auslegung von Apg 6,1–8,3 s.a.: Klaus Haacker, Stephanus. Verleumdet, verehrt, verkannt, Leipzig 2014, 13–100. Auslöser für die Einsetzung von Diakonen war eine Unzufriedenheit in der Jerusalemer Gemeinde, weil die Mahlzeiten nicht gerecht verteilt wurden. Um sich selbst weiterhin dem Beten und Predigen widmen zu können, ließen die zwölf Apostel, zu deren Aufgaben auch die Armenspeisung gehörte, sieben Männer bestimmen (Apg 6,3). Die Bibelzitate richten sich nach der Lutherbibel: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1984.Als erster empfing Stephanus den Segen durch die Apostel. Zunächst wird er den Leser·innen also als jemand vorgestellt, der sich den Armen zuwendet, als ‚Armenpfleger‘ bzw. Diakon. Diakon meint in diesem Kontext noch kein festes kirchliches Amt. Das Wort stammt vom griechischen Verb διακονέω (diakonéō), dem deutschen Wortfeld „dienen“. Hier ist weniger ein allgemeiner Diener gemeint, sondern einen zu einem bestimmten Dienst Beauftragten. Es handelt sich also um eine bestimmte Aufgabe und Dauer im Dienst eines Auftraggebenden.
Auf diese sozial-karitative Funktion verweisen in Carpaccios Bild eher Nebenfiguren wie eine alte Frau (Witwe?) am Fuße der Treppe, ein Kind, das möglicherweise eine Waise darstellt, sowie ein Pilger. Stephanus kniet, gekleidet in eine kostbare Dalmatika, die ihn als kirchlichen Diakon ausweist, auf einer Treppenstufe und empfängt die Weihe von Petrus. Diese karitativen Aspekte waren für den Auftraggeber des Bildes nicht unwichtig, da die Mitglieder der Scuola di Santo Stefano sich zur gegenseitigen materiellen und spirituellen Unterstützung verpflichtet hatten. Schon eine der frühesten Erwähnungen des Zyklus’, die sich in der Beschreibung von Bildern in Venedig von Marco Boschini (1674) findet, kommt auf die konkrete Darstellungsweise zu sprechen: Die Tafeln mit Geschichten des Heiligen Stephanus seien voll von Figuren und reich geschmückter Architektur („copiosi di figure, e d’ornatissime architetture“). Marco Boschini, Le ricche minere della pittura Veneziana, Venedig 1674, 89–90.
In der Tat ist das Bild mit der Weihe von zahlreichen Figuren bevölkert, die wie die Gruppe von Orientalen rechts für die Bilderzählung nicht zwingend notwendig sind, und mit einem weitläufigen und aufwändigen Stadtprospekt versehen. Doch es handelt sich bei diesen Elementen nicht um ‚reinen‘ Schmuck. Die dargestellte Architektur zeigt neben Gebäuden und Monumenten der römischen Antike auch Architekturformen und -zitate aus dem Heiligen Land, wie auch zeitgenössische venezianische Bauelemente des 15. Jahrhunderts. Wie es nur im Medium des Bildes möglich ist, werden durch die spezifische Darstellungsweise verschiedene geographische Orte und Zeiten in einer einheitlichen Bildwelt zusammengefasst: Jerusalem als historische Stätte des eigentlichen Geschehens, das zerfallene pagane Rom wie auch das christliche Rom – wohin die Gebeine des Heiligen bereits 560 gebracht worden waren – und nicht zuletzt Venedig in der Gegenwart des 15. Jahrhunderts. Im Bild wird das Geschehen so als ein historisches Ereignis einer weit zurückliegenden Vergangenheit ausgewiesen und zugleich in die Gegenwart zeitgenössischer Betrachter·innen versetzt. Für die Mitglieder der Bruderschaft, die das Bild bei ihren Versammlungen betrachten konnten, wurde so einerseits die Historizität ihres Patrons, seines Handelns und Leidens, beglaubigt und zugleich dessen Wirksamkeit bis in die Gegenwart vor Augen geführt – aktualisiert nicht zuletzt durch ihr eigenes karitatives Handeln.
Die Apostelgeschichte – Rede und Vision als Form der Geschichtsdeutung
Die Apostelgeschichte zeichnet Stephanus nicht nur in karitativer, dienender Funktion, sondern charakterisiert ihn über eine Angleichung an die Apostel zunehmend als Nachfolger und umfassenden Zeugen Christi. Direkt im Anschluss an die Segnung wird berichtet: „Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk“ (Apg 6,8). Er handelt demnach so wirkkräftig wie die Apostel selbst, über die es in Apg 5,12 ganz ähnlich heißt: „Es geschahen aber viele Zeichen und Wunder im Volk durch die Hände der Apostel.“ Der Autor der Apostelgeschichte hebt so auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene die anfängliche Unterordnung des Stephanus unter die Apostel auf. Da diese in der Konzeption der Apostelgeschichte Christus am nächsten standen, bedeutet dies zugleich eine deutliche Annäherung von Stephanus an Christus.
Der mit Geist und Weisheit begabte Stephanus beteiligt sich immer wieder an Disputen unter den Juden und wird deswegen schließlich vor dem Hohepriester angeklagt (Apg 6,10). An dieser Stelle durchbricht der Autor den narrativen Textfluss des Geschichtswerks, indem er eine Rede Stephanus’ einfügt, die dieser als Reaktion auf die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, die einem Blasphemie-Vorwurf gleichkommen, hält. Beginnend bei Abraham führt Stephanus die Hörer·innen bzw. Leser·innen durch verschiedene Stationen der Geschichte Israels, an denen das Volk von seinem Gott abfiel. Seine Rede mündet konsequenter Weise nicht in eine Apologie seiner selbst, sondern in die Anklage seiner Ankläger und in den Vorwurf, diejenigen verfolgt und verraten zu haben, die „das Kommen des Gerechten [d. h. Jesus Christus]“ verkündigten (Apg 7,52).
Die Einfügung einer Rede hat sowohl für die Art der Wissensvermittlung als auch dessen Geltung weitreichende Konsequenzen. Zum einen stellt der Autor der Apostelgeschichte sein historiographisches Werk damit in die Tradition der antiken griechischen Geschichtsschreibung, in der Reden seit Thukydides ein wichtiges Stilmittel waren. Mit dieser unmittelbaren Anknüpfung an die pagane Tradition erhebt die Apostelgeschichte für die berichteten Ereignisse einen universalgeschichtlichen Geltungs- und Deutungsanspruch. Zum anderen ermöglicht die Rede mittels ihrer direkten Ansprache eine verstärkte Affizierung der Leser·innen, welche sich selbst als Teil der Hörer·innen verstehen können. In Verbindung mit dem Wechsel des Erzähltempus‘ – von der Vergangenheit der Narration zum Präsens der Rede – hat dies zugleich den Effekt einer besonderen Präsenzwerdung des vermittelten Inhalts.
Die Wahrheit seiner Rede erweist sich im Anschluss mit der Widergabe einer Vision von Stephanus: „Er aber, voll heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes.“ (Apg 7,55f.) Stephanus’ anfängliche niedrige Stellung als Armenpfleger wird nun vollends zu einer umfassenden Zeugenschaft erweitert. Nicht nur durch seine Wundertätigkeit wird er mit den Aposteln gleichgestellt, sondern auch durch eine Offenbarung – er wird zum Augenzeugen Christi erhoben.
Die Ankläger lassen sich hingegen weder von Stephanus’ Rede noch von dem Bericht seiner Vision beeindrucken. Vielmehr halten sie sich die Ohren zu und treiben Stephanus vor die Stadt, um ihn zu steinigen. Somit steht Stephanus in Wirken, Lehre und Sterben in der Nachfolge Jesu, wobei vor allem sein Tod in der Apostelgeschichte deutlich als imitatio christi stilisiert wird. Mit seinen letzten Worten wird er ganz in die Nachfolge Jesu Christi gestellt: „der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg 7,59f.) Beide Aussagen erinnern an die nur bei Lukas überlieferten Worte Jesu: „Vater, in deine Hände übergebe ich deinen Geist“ (Lk 23,46) und „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).
Stephanus geht als Protomärytrer in die Geschichte ein. Als solcher wurde er in der Antike früh verehrt. Davon zeugen neben dem Nachweis über ein ritualisiertes feierliches Gedenken ein umfangreiches frühes Schrifttum Vgl. als Überblick zu Quellenlage und Forschungsgeschichte: François Bovon, The Dossier on Stephen, the First Martyr, in: The Harvard Theological Review 96/3 (2003), 279–315. sowie bildliche Darstellungen ab dem 5./6. Jahrhundert.
Vermittelte Augenzeugenschaft – Neu in Szene gesetzt oder erfunden
Stephanus’ Glauben und Vorbild als Heiligen stellt beispielhaft Bischof Gregor von Nyssa (335/340–nach 394 n. Chr.) in den Mittelpunkt seines Enkomiums – einer rhetorisch feinsinnig ausgearbeiteten Lobrede, die er am 26. Dezember 386 im Gedenken an Stephanus hält. Die Grundlage bildet die biblische Geschichte (Apg 6f.), ohne dass ihm mehr Informationen zu Stephanus vorlagen. Gregor hat ein klares Ziel seiner Rede vor Augen: „Wie auf einem Gemälde“ möchte er „ganz genau“ den Verlauf des Erlebens Stephanus’ darstellen, „damit sich uns Schritt für Schritt durch die Aufeinanderfolge der Geschehnisse der Sinnzusammenhang der Wunder zeige“. Ἀλλὰ καλὸν ἂν εἲη καθάπερ ἐπὶ πίνακος ἀκριβῶς τῷ λόγῳ διαζωγραφῆσαι τὴν ἂθλησιν, ὡς ἂν καθ᾽ὁδὸν ἡμῖν διὰ τῆς τῶν γεγονότων ἀκολουθίας ἡ τῶν θαθμάτων τάξις ἐπιδεικνύοιτο. (Gregoris Nyssenus. Encomium in Sanctum Stephanum Protomartyrem, griechischer Text, eingeleitet und herausgegeben mit Apparatus Criticus und Übersetzung von Otto Lendle, Leiden 1968, 8,4–7). Seinen Zuhörer·innen soll vor ihrem inneren Auge das Erleben von Stephanus sichtbar werden – Gregor lässt sie implizit zu ‚Augenzeugen‘ werden, er imaginiert eine Zeugenschaft seiner Hörer- und Leser·innen. Schließlich geht es darum, den Zusammenhang und den Sinn der Wunder zu erkennen, die mit der Person des Stephanus verbunden sind. Der Sinn erschließe sich nur im schrittweisen Nachvollziehen – in Gregors Metaphorik: Nach-Zeichnen – der biblischen Erzählung.
Vor einer ähnlichen Herausforderung stand über 1000 Jahre später Carpaccio in Venedig: Wie lässt sich die Wahrheit des christlichen Glaubens, die am Vorbild des Stephanus deutlich wird, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg präsent halten, glaubhaft machen und bildlich vermitteln? Carpaccio nutzt dazu in der Malerei eine äußert detailreiche, die Gegenstände in all ihren Einzelheiten beschreibende Darstellungsweise. Jedes Detail, von den genau beobachteten Texturen der Gewänder bis zu den Besonderheiten der Architektur, wird mit dokumentarischer Genauigkeit und in einer visuellen Unmittelbarkeit wiedergegeben. Dadurch entsteht der Eindruck, er und damit auch die Betrachtenden seien unmittelbar anwesend, quasi Zeugen des Geschehens, das sich vor ihren Augen und für ihre Augen abspielt. Diese Darstellungsweise ist nicht spezifisch für den Stephanuszyklus. Kurz zuvor wurde sie bereits in anderen Zyklen der großen und kleinen scuole in Venedig angewandt. Fortini Brown nannte diese Maler die „eye-wittness painters“. Fortini Brown 1988, 60–66 nennt v.a. Giovanni Bellini, Vittore Carpaccio, Giovanni Mansueti und Lazzaro Bastiani. Carpaccio bedient sich im Medium des Bildes einer Technik, die Gregor bereits mit Worten in seiner Lobrede auf Stephanus versucht hat zu evozieren. Das Leben und die Funktion des Märtyrers Stephanus sollen für die Hörer·in, Betrachter·in und Leser·in nahbar werden, ja, diese sollen als direkte Beobachter·in selbst Teil dieser werden.
Für die authentische Darstellung von Kostümen und Architektur griff Carpaccio auf visuelle und schriftliche Quellen zurück, die über Reise- und Pilgerberichte in der Handelsstadt Venedig zahlreich vorhanden waren. Die Darstellungen der Architektur des Heiligen Landes sind in diesem Zyklus etwa dem Pilgerbericht von Erhard Reuwich entnommen. Siehe David R. Marshall, Carpaccio, Saint Stephen, and the Topography of Jerusalem, in: The Art Bulletin 66/4 (1984), 610–620; Zieke 2019, 202f. Er beruft sich somit auf Autoritäten, die Kenntnisse erster Hand besaßen. Doch geht es hier nicht um eine schlichte Übernahme, eine Assemblage von historisch-archäologisch korrekten Versatzstücken. Vielmehr ist das Bild Resultat von Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen Wissensbeständen (topographischen Pilgerberichten, Kostümstudien, biblischen und hagiographischen Texten, ikonographischer Tradition etc.) und der Vorstellungskraft des Malers. Das Bild ist seine Erfindung, wie es die Signatur explizit ausweist: VICTOR CARPATHIVS / FINXIT M.D.XI – statt des üblicheren pingere oder facere verwendet er das über das Handwerkliche hinausgehende fingere und betont damit die Rolle seiner inventiven Kraft. Er schafft eine Fiktion, die historisch begründet und beglaubigend ist und die Geltung nicht zuletzt aufgrund der spezifischen Darstellungsweise erhebt.
Gregors Enkomium – Kämpfer und Vorbild im wahren Glauben
Ähnlich agiert Gregor: Auch er ‚kopiert‘ nicht einfach den Bericht der Apostelgeschichte in eine Lobrede. Vielmehr lässt er den Märtyrer in neuer Szenerie auftreten: „Aber lasst, Brüder, in der Rede auch uns gemeinsam zu dem Schauspiel eilen, wo der große Athlet gegen den bösen Widersacher des menschlichen Lebens kämpft, indem er sich in der Arena des Bekennens entkleidet.“ Ἀλλὰ συνδράμωμεν, ἀδελφοί, τῷ λόγῳ καὶ ἡμεῖς πρὸς τὸ θέατρον, ὡς ὁ ἀθλητὴς ὁ μέγας ἐναγωνίζεται πρὸς τὸν πονηρὸν ἀντίπαλον τῆς ἀνθρωπίνης ζωῆς ἐν τῷ σταδίῳ τῆς ὁμολογίας ἀποδυόμενος. (4,11–14 Lendle).In Gregors Enkomium führt Stephanus einen Wettkampf. Sein Gegner ist der Teufel. Der „Erfinder des Todes“ ringt mit „dem Schüler des Lebens“. Ihre Waffen könnten gegensätzlicher kaum sein: Der eine hat den Tod auf seiner Seite und der andere „das Bekennen des Glaubens“. Τῷ μὲν εὑρετῇ τοῦ θανάτου ἡ πρὸς τὸν θάνατον ἀπειλή, τῷ δὲ μαθητῇ τῆς ζωῆς ἡ ὁμολογία τῆς πίστεως. (6,16–18 Lendle).Stephanus lässt sich durch die Todesdrohungen – personifiziert in denjenigen, die scheinbar durch ihre griechische Bildung die Wahrheit haben, oder diejenigen, die das jüdische Gericht anrufen – nicht von seiner Wahrheit, dem christlichen Glauben abbringen. Gregor verschmilzt hier theologisch virulente Fragen seiner Zeit. Dies zeigt sich besonders an der Frage, ob der Heilige Geist als wesensgleich mit Gott Vater zu verstehen ist. Da Stephanus in seiner Vision Christi zwar Gott, nicht aber auch den Heiligen Geist gesehen hatte, führten die sogenannten Pneumatomachen („Geistbekämpfer“) laut Gregor gerade Stephanus als Garanten für eine Wesensungleichheit an. Vgl. 34,2-6 Lendle. Dem hält Gregor entgegen, dass „der große Stephanus auf die Rechtgläubigkeit hin trainieren“ Οὓτως οἷμαι δεῖν καὶ ἡμᾶς διὰ τοῦ μεγάλου Στεφάνου παιδοτριβηθῆναι πρὸς τὴν εὐσέβειαν, ὡς ἂν δι᾽αὐτοῦ φύγοιμεν τὰς τῶν Πνεθματομαχούντων λαβάς. (32,21–23 Lendle). lasse, denn niemand anderes als der Geist habe ihn überhaupt erst die Vision sehen lassen. Stephanus wird für Gregor zum Vorbild, um falsche Glaubensmeinungen abzuwehren; vielmehr aber noch wird Stephanus durch seinen Tod zum Verkündiger des wirklichen, des himmlischen, des verborgenen Lebens. Mit Gregor: „Er wird für Gott mit Steinen bedeckt, […] er triumphiert über den hingestreckten Tod.“ … οὓτος ὑπὲρ ἐκείνου καταλιθούμενος. … οὓτος ἐπεμβαίνων τῷ θανάτῳ κειμένῳ. (4,9–10 Lendle).
Der Zeitlichkeit enthoben
In der bildlichen Tradition werden diese Steine, die Werkzeuge seines Martyriums, zu seinem Attribut. Durchschritt man die Pforte zur Scuola di Santo Stefano, so passierte man ein Relief, das den Schutzheiligen umgeben von den ihn anbetenden Laienbrüdern zeigt (Abb. 1). An seinem Kopf sind zwei der Steine gut sichtbar dargestellt. Auf dem Altarbild der scuola wird Stephanus ganz ähnlich präsentiert (Abb. 2). Auch hier scheinen die Steine im Moment des Auftreffens erstarrt und fallen – der Schwerkraft trotzend – nicht von Kopf und Schulter herunter. Kondensiert zu einem stillgestellten, überzeitlichen Moment wird Stephanus den Betrachter·innen frontal zugewandt als Diakon (in der Dalmatika), als durchdrungen von Geist und Weisheit (mit dem Buch) und im Sterben Christus nachfolgend (mit der Märtyrerpalme) vor Augen gestellt.
Während im Zyklus Carpaccios einzelne Episoden in einer je eigenen Geschichtlichkeit gezeigt werden, wird hier ein außergeschichtlicher Modus der Vergegenwärtigung zur Anschauung gebracht. Statt Augenzeugenschaft am historischen Geschehen wird überzeitliche Teilhabe versprochen.
So unterschiedlich die Gegenstände und der Fokus auf Stephanus jeweils auch sind, so eint sie doch die Thematisierung der Zeugenschaft von Stephanus in Wort, Tat und Vision. Dabei geht es nicht nur darum, dieses Wissen in der biblischen Geschichtsschreibung, in einer antiken Lobrede oder einem Gemälde der Renaissance darzustellen und zu vermitteln. Vielmehr zielen die je eigenen Darstellungsmodi zugleich darauf ab, diese Zeugenschaft erfahrbar zu machen. Sie lassen die Hörer·innen, Leser·innen und Betrachter·innen ihrerseits zu Zeugen im Prozess des Hörens, Lesens und Betrachtens werden. Durch Vergegenwärtigung und Affizierung ihrer Person können diese selbst Jahrhunderte später in die Nachfolge eintreten.
Marie-Christin Barleben ist evangelische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Episteme in Bewegung.
Sarah-Magdalena Kingreen ist evangelische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Antikes Christentum Berlin sowie am Sonderforschungsbereich Episteme in Bewegung.
Claudia Reufer ist Kunsthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Episteme in Bewegung.